Der Pro­tes­tan­tis­mus ist eng ver­bun­den mit dem Buch­druck. Ohne ver­füg­ba­re und bezahl­ba­re Bücher und Flug­schrif­ten wäre die Refor­ma­ti­on nicht so ver­lau­fen und der Druck ist eine der Kern­in­no­va­tio­nen, die für evan­ge­li­sche Kir­chen unver­zicht­bar waren und sind.

Da ändert sich gera­de eini­ges: Zu lesen ist unver­zicht­bar für die Täu­fer, bei denen die Ent­schei­dun­gen, wie Glau­be gelebt wer­den soll und kann, von den jeweils ein­zel­nen Chris­ten­men­schen und den Gemein­den als Zusam­men­schluss mün­di­ger Gläu­bi­ger getrof­fen wer­den. – Für pie­tis­ti­sche Bibel­krei­se ist die Lek­tü­re, allein und als klei­ne Grup­pe, unver­zicht­bar. Wes­ley bezeich­ne­te sich als Mann eines Buches (der Bibel, natür­lich, wobei er weit mehr gele­sen hat­te und auch etli­che, etwa Gesund­heits­rat­ge­ber, selbst her­aus­ge­ge­ben hat.)

Das Schrift­prin­zip (sola scrip­tu­ra) bleibt eine Trieb­fe­der der Refor­ma­ti­on. So war das fast fünf­hun­dert Jah­re lang. – Heu­te aber ändert sich das gewaltig.

Was sich ändert, das ist das Medi­um: Immer weni­ger wird gele­sen. Zumin­dest gilt dies für die jün­ge­re Gene­ra­ti­on. Das liegt auch ein­fach dar­an, dass zahl­rei­che ande­re Medi­en eben auch ver­füg­bar sind: Fil­me, Seri­en, Audio (als Musik und Wort­bei­trä­ge), You­tube… Es führt sicher auch dazu, dass mir mei­ne Bibel-App für einen gerin­gen Mehr­preis die Funk­ti­on bie­tet, mir die bibli­schen Tex­te vor­le­sen zu las­sen. Das möch­te ich nicht, ande­re vielleicht.

Sport und Instru­men­ten­spiel blei­ben im Frei­zeit­ka­len­der. Auch dann, wenn wir heu­te weni­ger arbei­ten als vor hun­dert Jah­ren und mehr Frei­zeit ver­füg­bar haben: Die Zeit ist mit vie­lem und vie­ler­lei aus­ge­füllt. Umfang­rei­che und gar anspruchs­vol­le Tex­te kom­men da bei immer mehr Men­schen nicht mehr auf den Plan. Das mer­ken ver­mut­li­che glei­cher­ma­ßen die Ver­le­ger Tho­mas Manns oder Dos­to­jew­skis wie die Bibelgesellschaften.

Glei­cher­ma­ßen gilt: »Form fol­lows func­tion«, bei Archi­tek­tur und Pro­dukt­de­sign passt es glei­cher­ma­ßen. – Ande­rer­seits beein­flusst das Medi­um die Bot­schaft. Wenn wir – statt 66 Kapi­tel Jesa­ja zu lesen – eine für You­tube auf­be­rei­te­te Bild­ge­schich­te zu den Tex­ten sehen, ist das eben nicht das­sel­be. Die Fra­ge nach dem Ursprüng­li­chen bleibt: Soll­ten wir die Tex­te bevor­zugt nicht über­set­zen, son­dern im Ori­gi­nal lesen, also Jesa­ja auf Hebrä­isch, allein um all die unver­meid­li­che Ver­frem­dun­gen durch die Über­set­zung zu umge­hen? Das kann man for­dern und für die Aus­le­gung sit­ze ich ger­ne in die­sem Boot.

Wenn aber ein Text aus einer Spra­che in eine ande­re über­setzt wird, ist das ein ver­gleichs­wei­se gerin­ger Ein­griff gegen­über einem voll­stän­di­gen Medi­en­wech­sel. Wenn aus einem Text also ein Hör­spiel wird, ist das ein gra­du­ell grö­ße­rer Unter­schied, der aus dem Medi­en­wan­del folgt. Unver­meid­bar folgt. – Und dies prägt unse­re Rezeption.

Wenn also immer weni­ger ver­mit­tel­bar ist, dass der bibli­sche Text grund­le­gend ist, dann ver­än­dert das unser Bild vom Evan­ge­li­um. Allein durch das Medi­en wird der Glau­be ein anderer.

Wenn man­che Fun­da­men­ta­lis­ten einen (in mei­nen Augen) ganz unan­ge­mes­se­nen Gebrauch der bibli­schen Tex­te prak­ti­zie­ren, in dem die Tex­te qua­si selbst zu Gott wer­den, weil Wort Got­tes (= Jesus) fix mit der Bibel gleich­ge­setzt wird, dann folgt das dem höchst ver­ständ­li­chen Wunsch nach kla­ren und deut­li­chen Grund­la­gen. Nicht alle hal­ten die Span­nun­gen und Ambi­gui­tä­ten gut aus, die dar­aus fol­gen, dass wir es bei der Her­me­neu­tik stets mit unschar­fen Men­gen (fuz­zy set theo­ry) zu tun haben.

Klar, die­se Wei­te der Ver­ste­hens ist nicht, was ich etwa im Gemein­de­all­tag mir vor­stel­le oder gar im kirch­li­chen Unter­richt für direkt ver­mit­tel­bar hiel­te. Aber: Je mehr und je tie­fer wir ein­stei­gen in die Lek­tü­re und das Rin­gen ums Ver­ste­hen, des­to mehr brau­chen wir gute und zeit­ge­nös­si­sche Werk­zeu­ge. Wir nut­zen ja auch in der Medi­zin nicht nur ein Hör­rohr, son­dern auch einen Magnet­re­so­nanz­to­mo­gra­phen. War­um also soll­ten wir nicht in unse­re Her­me­neu­tik von Karl-Otto Apel, Paul Ricoer und Umber­to Eco einbeziehen?

Kul­tu­rel­le Pra­xen ver­schwin­den sel­ten. Meis­tens ent­wi­ckelt sich ein gewis­ses Spe­zia­lis­ten­tum. Etwa in der Pho­to­gra­phie: Die his­to­ri­schen Ver­fah­ren der Daguer­reo­ty­pie, des Brom-Öl-Drucks usw. waren mal Stand der Tech­nik. Inzwi­schen sind dies Kunst­for­men für weni­ge Spe­zia­lis­ten. Das Gros pho­to­gra­phiert mit dem Smart­phone – und ist es zufrieden.

Wenn etwa in den hoch­kul­ti­vier­ten Got­tes­dienst­for­men jede Hand­be­we­gung des Lit­ur­gen eine Bedeu­tung hat, ist das für den Nor­mal-Chris­ten zuneh­mend nicht mehr ver­ständ­lich. Viel­mehr reicht es den meis­ten, wenn sie den Gehalt, die »Bedeu­tung«, aus zwei­ter Hand hören.

Für lese­fau­le Schü­le­rin­nen und Schü­ler gibt es Werk­ein­füh­run­gen, die kurz und knapp die Lese­stof­fe zusam­men­fas­sen. Das erspart eini­ge hun­dert Sei­ten Reclam-Lek­tü­re. Mehr Zeit für ein Computerspiel.

In Gemein­den sehe ich man­ches ähn­li­che: Gera­de in der from­men Sze­ne gibt es zuneh­mend vie­le Men­schen, denen die Aus­le­gung ihres Pas­tors oder Jugend­lei­ters genügt. Selbst zu lesen, selbst die Tex­te zu medi­tie­ren und viel­leicht gar mit Hilfs­mit­teln (Kon­kor­danz, Bibel­le­xi­kon usw.) sich zu erschlie­ßen, das wird als unnö­tig und über­flüs­sig ange­se­hen. – Und ich kann es verstehen.

Sub­jek­tiv mag das pas­sen. – Ich bekla­ge nur, dass dabei aus einem Evan­ge­li­um A ein Evan­ge­li­um B wird. – Und bei­de sind eben kei­nes­falls identisch.

Wenn wir die Lini­en ver­län­gern, so folgt eine gan­ze Geschich­te der inter­pre­ta­to­ri­schen Ver­ein­fa­chung aus der media­len Über­set­zung. Ein Text näm­lich bie­tet in hohem Maße eine Offen­heit für unter­schied­li­che Zugän­ge. Die offe­nen Ent­schei­dun­gen las­sen sich, will man den Text etwa ver­fil­men, kaum so offen hal­ten. Man muss vie­le Fest­le­gun­gen und Ent­schei­dun­gen tref­fen. Sieht dann jemand den Film, ist schon viel weni­ger offen und möglich.

Zuge­ge­ben: Das Leben mit Fall­un­ter­schei­dun­gen ist schwie­rig und auch bis­wei­len müh­sam. Allein: Ein­fa­cher ist mei­nes Erach­tens der Text nicht zu haben. In allen Mehr­deu­tig­kei­ten. – Den recht­gläu­bi­gen Reli­giö­sen aller Zei­ten sind daher die Mys­tiker stets ein Stein des Anstos­ses und gel­ten als unsi­che­re Kan­to­nis­ten: Gleich ob es sich um die tan­zen­den Der­wi­sche in Konya han­delt oder um Meis­ter Eck­hart und Fried­rich Wein­reb. Die las­sen sich ein­fach kaum vor einen Kar­ren span­nen und ver­ein­nah­men, weil sie stets mehr und Frem­des bie­ten. Das aber ist es auch, das sie so anre­gend zu lesen und zu beden­ken macht.

Eng­füh­rung ist manch­mal reiz­voll, für mich zumin­dest. In der Musik von Take 6 und Jacob Col­lier ist »clo­se harm­o­ny« ein Schlüs­sel­be­griff. Ande­rer­seits ist die Viel­stim­mig­keit eben auch dar­in ange­legt. Ohne die Mög­lich­keit, der Wei­te und Öff­nung blie­be vie­les auf der Strecke.

Die Zeit zeigt, dass eine Hin­ge­zo­gen­heit zum Text (etwa der Bibel) grund­le­gend ist, sich man­cher Mühen zu sei­ner Erschlie­ßung zu unter­wer­fen. Wenn man jeman­dem bloß sagt: »Lies!« die Bibel – war­um soll­te er oder sie? Es braucht eine intrin­schi­che Moti­va­ti­on, und bis zu der ist es ein recht stei­ni­ger Weg. Vie­le geben unter­wegs auf. Haben viel­leicht mal das Mar­kus­evan­ge­li­um gele­sen, aber es sag­te ihnen nichts.

Wor­an ich wei­ter herumdenke:

  • Ist die evan­ge­li­ka­le Fest­le­gung auf bestimm­te Ver­ständ­nis­se der man­geln­den Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Text geschuldet?
  • Ist die Hin­wen­dung zum (engen) Bekennt­nis in vie­len Kir­chen der abneh­men­den Bele­sen­heit der Gemein­de­glie­der geschuldet?
  • In wel­cher Wei­se wird der Medi­en­wech­sel zu mehr Film… (und weni­ger Text) den Inhalt der Bot­schaft in den nächs­ten 20 bis 30 Jah­ren verändern?
  • Ist die Ein­engung durch Nach­kom­men­de (etwa die Luthe­ri­sche Ortho­do­xie nach Luther) der eige­nen Enge geschul­det und einer prag­ma­ti­schen Not­wen­dig­keit folgend?

Fra­gen, Fra­gen… eini­ge Fest­stel­lun­gen, aber kei­ne Lösun­gen habe ich für mei­ne Beob­ach­tun­gen anzubieten.