Gestern (11.12.2022) hielt ich die folgende Predigt in der »Gemeinde mittendrin« in Wunstorf. Nachdem es den Wunsch gab, diese einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, komme ich dem hier gern nach, zumal sie thematisch gut auf nachfolge-postmodern.de passt.
Predigttext ist Jesaja 40,1 – 11
Alternativ ist sie hier zu lesen:
Liebe Gemeinde,
biblisch ist gut?
dass etwas biblisch ist, gilt in christlichen Kreisen als an sich gut. Da gibt es so Begriffe wie ein biblisches Familienbild; positiv, weil es biblisch ist. – Biblische Lehre stellt zumindest einigermaßen sicher, dass da der Prediger (oder die Predigerin) nicht seinen bzw. ihren eigenen Kram lehrt?! – Ist das wirklich so? – Gewöhnlich ist der Zeitgeist die Gegenkategorie, von der man sich dringend abgrenzen möchte.
Zugegeben: Es gibt viel zu viele misslingende Beziehungen und Partnerschaften. Zu viele für alle, am meisten für die, die nun zumindest so wirtschaftlich lebenfähig sind, dass sie nicht zwanghaft zusammen bleiben müssen, wenn sie einander das Leben erschweren.
Wollen wir wirklich wieder Steinigungen und Prügelstrafen, weil die biblisch sind? Wollen wir Mädchen mit 14 Jahren zwangsverheiraten durch die Familien und Jungen mit 16? –
Den Katalog der Wünsche einer Partei Bibeltreuer Christen etwa kann ich gut nachvollziehen; die Methode aber muss so sein, dass alles freiwillig geschieht. Und eben nicht per Gesetz und Druck von oben. – Schließlich begeistert uns Gott, wenn er uns in seine Nachfolge beruft. Niemand wird gezwungen. Wer erst seinen Acker besehen möchte, Angehörige beerdigen muss, der wird eben nicht nachfolgen. – Schade. Jesus aber hat sich das durchaus sagen lassen. Wenn dem reichen Jüngling sein Besitz wichtiger ist als die Nachfolge, dann lässt Jesus ihn traurig gehen.
Dieser gesetzliche Gebrauch biblischer Texte ist stets nach rückwärts ausgerichtet. Wer dies tut, stellt fest: Früher (=in der Bibel) war alles besser. Und so lebt man im gestern. – Andere lesen alles als Fahrplan oder Kursbuch für das Ende der Welt. Auch sie leben nicht jetzt. – Jetzt ist manches schlecht? – Ist nicht so schlimm, denn am Ende der Zeiten wird Gott alles Tränen abtrocknen, da müssen alle ihn anbeten, da gibt es keinen Schmerz und kein Geschrei mehr. – Liebe Gemeinde: Das ist mir kein Ansporn. Warum ich aber von der Bibel eine Menge halte, das möchte ich in meinem zweiten Punkt deutlich machen:
zu lesen hilft zu verstehen…
Im 2. Timotheusbrief steht:
»Denn jede Schrift, die von Gottes Geist eingegeben wurde, ist nützlich für die Unterweisung im Glauben, für die Zurechtweisung und Besserung der Irrenden, für die Erziehung zu einem Leben, das Gott gefällt. Mit den Heiligen Schriften in der Hand ist der Mensch, der sich Gott zur Verfügung gestellt hat, ausgerüstet für alle Aufgaben seines Dienstes.« (2. Tim.3,16bf – GNB)
Heilige Schriften, das waren damals die Schriften Israels, die wir »Altes Testament« nennen. Das neue gab es noch nicht, die Schriften schrieb man erst auf, als das Wiederkommen Christi länger auf sich warten ließ, als die Jünger, die nun Apostel geworden waren, angenommen hätten.
»Wer nicht liest, wird mit 70 Jahren nur ein einziges Leben gelebt haben: Sein eigenes. Wer liest, wird 5000 Jahre gelebt haben: Er war dabei, als Kain Abel tötete, als Renzo Lucia heiratete, als Leopardi die Unendlichkeit bewunderte. Denn Lesen ist eine Unsterblichkeit nach rückwärts.« – Umberto Eco: le frasi più celebri, dai social al terrorismo / die bekanntesten Phrasen, von sozialen Netzwerken bis zum Terrorismus
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wie viele Krankheiten wird eine Ärztin wirklich in ihrer Praxis erleben? Wie viele andere kennt sie aus der Literatur? – Und: Wie wollen wir unsere Glaubenserfahrungen denn überhaupt als solche erkennen, wenn wir nicht die Überlieferung vom Glauben anderer kennen?
Die Apostel jedenfalls zitieren viel und oft die Schriften der hebräischen und aramäischen Bibel, um nicht zu sagen: Das Alte Testament. – Ein Beispiel von Jesus selbst, der sich ja oft als Menschensohn bezeichnet: In Daniel 7 schildert der Text eine Vision des Daniel in der Nacht. Da sieht er vier Herrscher, jeweils mit wenigen charakteristischen Worten. – Und damit knüpfe ich gleichsam an die Predigt Peter Mohrs von der letzten Woche an:
»Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm hervor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm. Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan.
Ich sah auf um der großen Reden willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. Und mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende. Ich, Daniel, war entsetzt, und dies Gesicht erschreckte mich.«
Hier schaut nicht Johannes auf Patmos in den Himmel, sondern Daniel im Exil in einer nächtlichen Vision. Auch die erschreckt ihn. – Der Menschensohn hier wird mit Macht, Ehre und Reich ausgestattet; alle dienen ihm.
Ohne diesen Zusammenhang könnten wir nicht verstehen, wieso der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben (Mk.2,10), wieso er viel leiden muss (Mk.8,31), wieso er keinen Ort hat, sein Haupt hinzulegen (Mt.8,20); der Menschensohn ist gekommen, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (Mt.20,28). In der Apostelgeschichte, Kapitel 7, hören wir vom ersten Märtyrer, von Stephanus, einem der sieben Diakone. Weil er nicht das Predigen nicht verbieten lässt, wird er schließlich gesteinigt. Doch unmittelbar bevor das geschieht, lesen wir folgendes:
»Er aber, voll Heiligen Geistes, sah auf zum Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes und sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen. Sie schrien aber laut und hielten sich ihre Ohren zu und stürmten einmütig auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn.« (Apg.7,55 – 58)
So viel zum Begriff »Menschensohn« und der Doppelbedeutung: Einmal einfach ein Mensch, zum anderen aber ein ganz besonderer Mensch.
Wie sollen und können wir aber zum Verstehen gelangen? – Wir denken an den äthiopischen Kämmerer, den Philippus fragt: verstehst du denn, was du liest? – Der antwortet: Wie könnte ich denn, wenn mich nicht jemand anleitet?
Liebe Gemeinde, im November gab es eine KU- und Jugendfreizeit zum Thema Die Bibel und Du. Wenn wir Sport einigermaßen ernst nehmen, trainieren wir an jedem zweiten Tag, am Wochenende gibt es Wettkämpfe. Und für die Bibel haben wir einen thematischen Vormittag im November Zeit? das erscheint mir ein Missverhältnis!
Wir alle brauchen mehr Umgang mit den Texten, und wir wissen auch: Es gibt mehr mediale Angebote als Bücher, was dazu führt, dass durchschnittlich weniger gelesen wird. – Und die Bibel ist (zumindest weil sie ein altes und ein übersetztes Buch ist), kein ganz einfacher Lesestoff.
Echtzeit in Präsenz, Hauskreise und dergleichen sind ein guter Anfang. Wie aber sollen wir da weiter kommen, wenn wir nicht oft und möglichst regelmäßig trainieren?
Ein Freund sagte mal: Unsere Prioritäten zeigen sich im Kalender. – Ich denke, dass er da ein zutreffendes Wort gelassen ausgesprochen hat.
Jesaja 40 – Hoffnung auf einen Neuanfang nach dem Exil
Liebe Gemeinde,
im babylonischen Exil, so die Mehrheitsthese, gab es eine Gruppe, die darüber nachdachte, was das alles bedeutet: Wie konnte Gott sein Volk und seine Stadt Jerusalem mit Tempel und Bundelade, von den Babyloniern erobern lassen? Was hatte das Volk Juda denn falsch gemacht?
Hier begann man vermutlich, die Schriften des Alten Testaments zu sammeln, in eine Gestalt und schließlich so etwas wie eine Zusammenstellung zu bringen. Gesetz, Bund, Sabbat, das alles wurde wichtig: Die These war: Weil das nicht gehalten worden war, darum hatte Gott seine Stadt und sein Volk in die Hand der Feinde gegeben.
Viele verorteten hier den Deuteronomismus und die Anfänge dessen, was später mal die Pharisäer werden sollten.
Der zweite Teil des Jesajabuches, also die Kapitel 40 – 55 in unseren Bibeln, wir oft auch zweiter Jesaja (Deuterojesaja) genannt. Dieser zweite Teil des Buches ist stilistisch anders als der davor liegende und der dritte und letzte Teil. Und: Hier wird zweimal Kyros II. (in Jes. 44,28 und 45,1) genannt. Man datiert heute daher mehrheitlich auf die Zeit um 539 v. Chr. (das Ende der Babylonischen Herrschaft, als die Perser die Vorherrschaft übernehmen).
Was wird denn nun gesagt? – kurze Schilderung: Die Folge des Unrechts ist überwunden. Genug. Nun darf eine Freudenbotschaft von Jerusalem hörbar werden. Die Tochter Zion, das ist Gottes Stadt Jerusalem. Oft als Frau oder Braut dargestellt, die Gott untreu geworden war. Die Kinder kehren zurück! Grund zur Freude besteht.
Gott selbst wird wie ein oder als Hirte die verlorenen sammeln und zurückbringen. Und damit sind wir kurz vor dem, was Jesus macht, wenn er sich als guten Hirten bezeichnet, der sein Leben für die Schafe einsetzt.
Im vierten Jahrhundert lebte der Kirchenvater Augustinm und der schrieb einmal: Das Neue Testament liegt im Alten verborgen, das Alte wird im Neuen offenbar. (quaestiones in heptateuchum 2,73)
Vieles an den prophetischen Textes des Jesajabuches bleibt mehrdeutig. Nicht jeder mögliche Bezug auf Jesus muss zwanghaft hergestellt werden. Klar ist aber auch, dass dies in der Kirchen- und Theologiegeschichte und auch schon in der frühen Christenheit oft getan wurde. – Klar ist aber: Es gibt ein Verhältnis der früheren und der späteren Texte zueinander. Das aber merke ich nur, wenn ich beide kenne. Umberto Eco spricht von Intertextualität; damit meint er, dass spätere Texte frühere widerspiegeln, aufnehmen, parodieren, zitieren. Mehr noch: Texte sind überhaupt nur denkbar in einer Kultur, die durch andere Texte und Zeichen geprägt ist.
Ich gehe so weit, dass wir unser biblisches Neues Testament nicht verstehen können, ohne das darunter geschriebene, weggeschabte, quasi das Palimpsest des Alten Testaments.
Und deshalb sind Pläne, das Alte Testament wegzulassen, wie sie einst der römische Reder Marcion hatte, eben so sinnlos bis unmöglich, wie eine Arisierung des Christentums, die die Deutschen Christen nach 1933 versuchten.
»Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein. Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.«
— Amen.
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