Aus wenigs­tens zwei Rich­tun­gen gibt es grund­sätz­lich Kri­tik am Begriff der »Post­mo­der­ne«: Die einen (»Vor­mo­der­nen«) leh­nen schon die Moder­ne ab, die ande­ren fin­den es über­trie­ben, schon wie­der eine neue Epo­che aus­zu­ru­fen (»Moder­nen«).

Bei­de Ansät­ze begeg­nen mir öfters. Und doch: Ich möch­te am Begriff und vor allem am Denk­mo­dell fest­hal­ten. Ob wir das, was ich mei­ne, dann hin­ter­her mit einem ande­ren Begriff bele­gen, dar­über kann man reden.

Evangelikal?

Die Kri­tik, die ich höre, kommt vor allem aus der from­men Ecke. Klas­sisch evan­ge­li­kal kann man ja sagen, dass »evan­ge­li­kal« bedeute,

  • die Jesus-Fröm­mig­keit (stark chris­to­zen­trisch) zu betonen,
  • Bekeh­rung (also per­sön­li­che Hin­wen­dung zum Glau­ben) hochzuhalten,
  • sich in die Welt geschickt zu wis­sen, sozia­les Enga­ge­ment, Mis­si­on, Evangelisation,
  • die Bibel­fröm­mig­keit zu betonen

(so die Defi­ni­ti­on des Beb­bing­ton Qua­dri­la­te­rals für »Evan­ge­li­ka­lis­mus«) (vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/David_W._Bebbington)

Die Erwe­ckungs­be­we­gung wird bis ins 17. (Puri­ta­nis­mus, Quä­ker, …) und 18. Jahr­hun­dert (etwa »Gre­at Awa­ke­ning«) als Vor­ge­schich­te und Vor­läu­fer der evan­ge­li­ka­len Bewe­gung gedacht.

Umbruch in den 1960er Jahren

Mit dem Wir­ken der gro­ßen evan­ge­lis­ti­schen Ver­samm­lun­gen und Ver­an­stal­tun­gen in den 1950er und 60er Jah­ren (Bil­ly Gra­ham usw.) auch hier­zu­lan­de kommt es zeit­gleich in der Geis­tes- und Phi­lo­so­phie­ge­schich­te zu einer mas­si­ven Hin­wen­dung zur Sprach­phi­lo­so­phie (vor allem im Ver­ei­nig­ten König­reich und Ost­eu­ro­pa), zur Ana­ly­ti­schen Phi­lo­so­phie (in den USA) und zur Beto­nung von Seman­tik und Semio­tik, also auch wie­der einem Blick auf die Spra­che aus Mit­tel des Den­kens in der fran­zö­si­schen (etwa Michel Fou­cault, Der­ri­da usw.) und ita­lie­ni­schen Phi­lo­so­phie (etwa Umber­to Eco usw.)

In den 1960er Jah­ren ent­stan­den Kul­tur­kämp­fe zwi­schen den kon­ser­va­tiv den­ken­den, den Stu­die­ren­den-Unru­hen (eher pro­gres­siv), aber auch zwi­schen christ­lich-tra­di­tio­nell (Gemein­de über Zuge­hö­rig­keit defi­niert) und christ­lich-pro­gres­siv (etwa Pfingst­kir­chen und cha­ris­ma­ti­sche Auf­brü­che, aber auch nicht-kon­fes­sio­nel­le Gemein­den… ) Kurz: Der mut­maß­li­che Schmelz­tie­gel der Kul­tu­ren zeigt sich eher als Salat­schüs­sel, weil eben nicht alles ver­schmol­zen ist, son­dern viel­mehr gemischt neben­ein­an­der besteht. vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Schmelztiegel

vormodern und modern

Die einen den­ken vor­mo­dern und möch­ten ger­ne eine tra­di­tio­nel­le Sexu­al- und Fami­li­en­mo­ral hoch­hal­ten (»kein Sex vor der Ehe«). Die ande­ren beto­nen, dass wir in der Moder­ne leben, stel­len fest, dass zur Zeit des Neu­en Tes­ta­ments die Zwangs­ver­hei­ra­tung mit etwa 13 Jah­ren (für Mäd­chen) und ca. 16 Jah­ren (für Jun­gen) üblich war. — Da stell­ten sich bestimm­te Fra­gen also nicht; auch etwa die Fra­ge nach der eige­nen geschlecht­li­chen Ori­en­tie­rung. Wenn aber die Aus­bil­dungs­zei­ten immer län­ger wer­den, und vie­le erst mit um die drei­ßig Jah­re an Fami­li­en­grün­dung den­ken, lie­gen die Din­ge anders. — Wer es anders will, der muss eben auch zur (vor­mo­der­nen) Früh­ver­hei­ra­tung zurück.

Den einen ist die Moder­ne schon ein Dorn im Auge mit den vie­len Ein­zel­nen, die je ihr Ding machen und ihre eige­nen Ent­schei­dun­gen tref­fen möch­ten. — Die ande­ren fin­den, dass es zunächst erfor­der­lich sei, die rück­stän­di­gen ande­ren zumin­dest in die Moder­ne zu holen, denn die eigent­li­chen und prak­ti­schen Pro­ble­me bestän­den, wie sie fin­den, zwi­schen einem vor­mo­der­nen und einem moder­nen Denken.

Sol­che Für­spre­cher fin­den also eher, dass wir in einer noch immer moder­nen Pha­se leb­ten, ihnen ist die Ent­wick­lung des Indi­vi­du­ums, die Ent­schei­dung der Ein­zel­nen (für den Glau­ben, für Part­ner­schaft usw.) wich­tig. So weit so gut.

Realismus?

In der so beschrie­be­nen »moder­nen« Welt kön­ne eben nicht vor­aus­ge­setzt wer­den, dass jemand, weil er oder sie getauft wur­de, Christ ist (oder bleibt). Sie beto­nen inso­fern die Frei­hei­ten, die Bür­ger­lich­keit und den­ken somit sehr von den Ein­zel­nen her. Das ist mir im Grun­de sym­pa­thisch. — Hier aber wird auch noch so etwas unter­stellt, teils imma­nent, teils expli­zit, wie ein Rea­lis­mus in dem Sin­ne, dass es so etwas wie Ein­zel­ne, Kon­flik­te, Roh­stof­fe, demo­kra­ti­sche Pro­zes­se gäbe. Im Sin­ne von »objek­ti­ven Tat­sa­chen«. Und die bil­de­ten wir mit unse­rem Spre­chen über die Sach­ver­hal­te und die Din­ge der Welt mehr oder weni­ger zutref­fend in unse­ren Sät­zen ab.

Und hier wider­spre­che ich ent­schie­den. Ich hal­te die Behaup­tung nicht ein­mal für sicher unzu­tref­fend, dass es so sein kann. Aber: Wir den­ken im Medi­um der Spra­che. Der Über­gang von den Sach­ver­hal­ten zu den Sät­zen ist mit aller­lei Tücken behaf­tet, die nicht ein­fach so über­gan­gen wer­den soll­ten. Letzt­lich aber leben wir nicht allein in unter­schied­li­chen Wel­ten, wir den­ken auch in je unse­ren Spra­chen, die geprägt sind durch unse­re Kul­tur. (Sie­he Post­mo­der­ne und Kul­tu­ra­lis­mus)

in der Praxis kein Problem — mit Vormodernen wie mit Modernen

Inso­fern sehe ich einen wesent­li­chen Unter­schied zwi­schen mei­ner eige­nen Posi­ti­on und der von ande­ren, die uns als in der Moder­ne den­ken. Die­ser ist kate­go­risch und ähn­lich groß wie der zwi­schen vor­mo­der­nen Den­ken­den und mir. In der Pra­xis lebe ich ja nicht als Ehe­bre­cher oder so. Im »Lebens­voll­zug« fin­den auch Vor­mo­der­ne kaum etwas, wor­in ich ihre Vor­stel­lun­gen nicht erfüll­te. — Im Den­ken ist es aber ein gewal­ti­ger Unter­schied, denn ich bil­li­ge ande­ren zu, anders zu glau­ben und auch zu leben als ich das tue. — Und damit haben vie­le Vor­mo­der­ne ein gro­ßes Pro­blem. Eini­ge sto­ßen sich dar­an, dass ich ger­ne Gemein­schaft habe mit Mus­lim, froh bin, wenn wir vie­le Gemein­sam­kei­ten in unse­ren jewei­li­gen Glau­bens- und Lebens­wei­sen entdecken.

Weil ich aber auch Glau­ben (wie Den­ken und Spre­chen) als Kul­tur­phä­no­me­ne anse­he, kann ich gut damit umge­hen. Und inso­fern muss ich lei­der drauf behar­ren, wei­ter­hin für Vor­mo­der­ne und Moder­ne ein Feind­bild in mei­nem post­mo­der­nen Den­ken abzu­ge­ben. — Glück­li­cher­wei­se mer­ken das nicht alle.