Früher ging man in seine Gemeinde, der jeweilige Pastor predigte das Evangelium gemäß der »von oben« festgelegten Predigttexte (= Perikopenreihen). Für die, die nicht mehr zu den Gottesdiensten konnten (weil gebrechlich) gab es Fernsehgottesdienste. Auch die folgten den Ordnungen, mit leichten Unterschieden je nach Landeskirche.
Für die, denen das nicht reichte, gab es den esoterischen »Evangeliumsrundfunk« über Mittelwelle/Kurzwelle (stark verrauscht); und Freikirchen gab es auch, sie standen den Sekten nahe, so die allgemeine Auffassung.
Heute haben wir — binnen einer Generation — eine Vielfalt wie nie: Das ist kultureller Wandel durch technischen Fortschritt. Satellitenfernsehen brachte auch hier zu uns Fernsehprediger und bibel.tv. Das Internet bietet mit zahlreichen Kanälen bei Youtube, christlichen Blogs, Podcasts usw. ein gewaltiges Spektrum an christlichen Positionen. Dem sind wir Nachfolgende ausgesetzt. Müssen uns einen Weg durch den Dschungel bahnen (bitte ohne Machete), so dass es für uns und unseren Glauben passt.
In einer mittleren Stadt wie Hannover gibt es viele neue, freie Gemeinden, auch gerade solche, die sich keiner Konfession oder Denomination zuordnen lassen, sondern sich vielmehr über einen Stil definieren. Post-konfessionell, das heißt: Christ sein ohne letzte Klarheit bei Lehrinhalten — und es ist eine Reaktion auf kleinteiligste Streitereien in der Kirchengeschichte.
Was machen wir mit dem endlosen Sprechen, dem »fürchtet euch nicht«? Wir können zu jeder Zeit einen erwecklichen Podcast hören, begleitet Bibellesen, haben nicht unsere (eine) Bibel, sondern bei bibleserver.com eine Vielfalt sonder gleichen.
Führt das alles zu unserem Abschalten? Hören wir noch Gott in all den Stimmen, ihrem Durcheinander und Gegeneinander? »Du hast zwar mal geschrieben, wir soll’n uns alle lieben, bedenke aber, dass wir nicht Korinth sind.« — So dichtete Eckard zur Nieden.
Risiken und Gefahren der Vielfalt
- Wir können jederzeit jemanden finden, der in fast allem unsere eigene Position (und sei sie noch so abwegig) bestätigt. Wenn es alles gibt, relativ unsortiert bzw. bloß durch Facebooks Algorithmen uns zugeordnet, dann kann es sein, dass wir in einer Filterblase unsere christliche Existenz fristen.
Kritik hören wir nicht einmal mehr, weil sie uns nicht erreicht, und wenn doch: Siehe oben. - Atomisierter Glaube meint so viel wie: »Gott und ich.« — die anderen, die Gemeinde oder Gemeinschaft der Geschwister, das kommt nicht in dem Sinne vor. Es kann dazu führen (und tut dies bereits), dass Menschen zu keiner Gemeinde gehen oder sich halten, weil sie überall Fehler sehen. Sicher zu recht, denn nichts ist vollkommen. Allein: Das war immer so. Es wird auch so bleiben. Wenn ich aber bloß mit einem z.B. YouTube-Kanal Gemeinschaft habe, ist das medial sehr vermittelt. Für mich ist es nicht, was ich mir wünsche.
- Wenngleich nicht alles gut ist beim öffentlichen Schulwesen, so ziehe ich dies doch dem »home schooling« deutlich vor, weil es die anderen gibt, weil es Konflikte und Meinungsverschiedenheiten gibt, und Konflikte lösen zu lernen eine gute Praxis ist, und zwar gleichermaßen für Gemeinde wie für Schule.
- Formen und Lehren entwickeln sich, und zwar meist in der und durch die Auseinandersetzung. Wenn ich vom christlichen Menü bloß bestelle, was ich kenne, und das, von dem ich weiß, dass es mir schmeckt, dann gibt es keine Entwicklung (mehr). — Zum Nachteil für alle.
- Zur Nachfolge gehört auch die Sendung, das Weitersagen. Dieses »von-Mensch-zu-Mensch« (mit einem Buchtitel von Albrecht Goes von 1967, in dem er u.a. über die Unterschiede von schriftlicher Kommunikation gegenüber der direkten nachdenkt — etwa über Missverständnisse im Brief…) wird kaum direkt, sondern stets vermittelt erfolgen, wenn man selbst im hoch-individualisierten Schneckenhaus-Glauben lebt.
Aber es gibt auch klare Chancen:
Einige Chancen der Postmoderne fürs Christsein
- Es weitet den Blick, wenn wir nicht bloß die Predigten in der Ortsgemeinde hören. – Vielfalt kann beleben und das Bild vervollständigen.
- Gerade auch da, wo es dürre Predigt bzw. kaum Input gibt, gibt es einen oder mehrere Plan‑B.-Ansätze, wenngleich medial vermittelt.
- Globalisierung betrifft nicht allein unsere Lieferketten; auch das Evangelium wird anders, wenn wir es aus den USA, Korea usw. hören oder sehen. – Nebenbei: Wenn zunehmend mehr Menschen, etwa der eigenen Reichweite wegen, in englischer Sprache predigen, lehren, …., so bewirkt das bei (nicht muttersprachlichen) Redenden wie Hörenden einen gewissen Verfremdungseffekt. Man sagt und hört etwas anders, wenn es nicht in der eigenen Sprache ist.
- Diese Verfremdung kann uns das Evangelium nahebringen, näher als das manchmal allzu vertraute, bei dem wir weghören, weil wir es zu kennen meinen.
- Ich komme kaum umhin, zwischen mir, meinen Formen usw. einerseits und dem Evangelium andererseits zu unterscheiden. Das führt dazu, dass ich sagen kann: Für mich ist das zu pfingstlich oder zu charismatisch. Ich sage aber nicht mehr »das ist falsch« oder »Irrlehre«.
- Die Vielfalt kann den Blick schärfen auf das, was ich kann und möchte, auch hören kann und möchte. Andererseits merke ich, dass das nicht alles ist. Ich kann gönnen können — etwa anderen eine andere Art.
Wir haben keine Wahl: Die Situation ist wie sie ist. Wir werden uns in Corona-Zeiten mit weniger persönlichen Gottesdiensten und mehr medialer Vermittlung nur eher dessen bewusst, welche Vielfalt der Inhalte und Vermittlungswege der Geist gibt. Ein verantwortlicher Umgang ist ein selektiver: Was tut anderen und mir gut? Ich muss nicht alles mitmachen, aber es ist dennoch gut, dass es so vieles gibt.
So jedenfalls meine derzeitige Erkenntnis.
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