»… Stell dir vor, es gibt ein spirituelles Erwachen, aber die Kirchenhäuser füllen sich nicht mit suchenden Menschen. Oder noch drastischer: Stell dir vor, auch Jesus würde aus der institutionalisierten Form von (Frei-)kirche austreten, weil er ernsthaft interessierte Leute außerhalb der verfassten und verfestigten kirchlichen und gemeindlichen Strukturen besser für das Reich Gottes gewinnen könnte. Das wäre ein Schreck. Ein böses Erwachen…
Oder schlimmer noch: Wir würden es gar nicht bemerken. Deswegen nicht, weil wir in unserem überkommenen christlichen Denkrahmen, unseren gemeindlichen Gewohnheiten und religiösen Ritualen bereits für ein breitflächigeres Wirken Gottes jenseits von frommen Bewertungen und Abgrenzungen blind geworden sind.« (Jens Stangenbergs Aufsatz Wie postmoderner Glaube aussehen muss in Aufatmen 05/2007, S. 75)
Wir erleben mehrere Bewegungen gleichzeitig (etwa das nachkofessionelle Zeitalter, in dem Gemeinden sich eher über einen Musik- und Predigtstil als über ein Bekenntnis mit theologischen Details definiert – zeitgleich das anything goes, das manche im Glaubensdingen fordern und wünschen, eine neue Innerlichkeit mit Spiritualität, aber eher eklektisch, man bedient sich in Indien und Persien wie bei iroschottischen Mönchen) und bemühen uns, in den Kirchen und Gemeinden zu reagieren. Wie üblich: Zu zaghaft und zu spät. Aber immerhin: Wir können sagen, dass wir uns bemühen.
Fresh Expressions…
Da sind etwa die Fresh Expressions of Church, die neuen Ausdrucksformen, die hierzulande gleich erstmal in einem Verein organisert wurden. Es folgt der Frischetheke-Podcast vom Fresh-X-Netzwerk Deutschland e.V. Da werden Protagonist(inn)en der Bewegung oder einzelner Projekte vorgestellt. Anderen zum Ansporn.
Wie bereits andernorts geschrieben: Fresh Expressions mögen ein Ausdruck des Glaubens sein, sie helfen der Gemeinde-Zukunft aber kaum auf, weil sie Gruppen und Einzelne ansprechen, die eben eher nicht in Institutionen passen (Expeditive [laut Sinus-Milieustudie] und Gemeindevorstand: undenkbar!)
Man kann das selbstredend auch den Institutionen anlasten: Wenn Gemeinde und Kirche anders liefe, eher informell, eher ad-hoc… Tun Gemeinden und Kirchen aber nicht. Gewöhnlich sind sie auf größtmögliches Beharrungsvermögen angelegt – ein Ausdruck ist, dass oft die Gebäude und Grundstücke, die die einzelnen Gemeinden nutzen, nicht ihnen, sondern dem Verband gehören: Auf englisch: Trust-Clause. Wenn eine Gemeinde den Verband (die Kirche) verlassen möchte, so verliert sie ihr Gebäude.
Gerade Ältere aber hängen oft an ihrer Kirche und sie möchten diese nicht gern aufgeben. Andererseits: Sich einzumieten ist oft nicht allein flexibler (Gemeinden wachsen oder schrumpfen, selten passt ein Gebäude dauerhaft), es führt bei den oft sehr alten Gebäuden (und den Renovierungsstaus) auch aus manchen Dilemmata.
Menüs kennen und lieben alle
Es geht hier aber weniger um Gebäude als vielmehr darum, dass die Formen von Gemeinden an sich für immer weniger Menschen passen. Wer auf Trip-Hop steht, geht eben nicht mehr zu Hip-Hop. Früher veranstaltete man ein Konzert mit christlicher Musik, gleich ob Gospel, Jazz, Pop oder Oratorium. Die Christenmenschen gingen hin. – Heute gibt es für jeden Geschmack eine Gruppe auf Facebook und Angebote auf Youtube.
Wenn es nicht genau mein Ding ist, dann gehe ich eben nicht hin! Mit steigenden Ansprüchen werden diese lokal immer schwieriger zu erfüllen. Meine Frustrationswahrscheinlichkeit in der eigenen Gemeinde oder dem eigenen Verband steigt.
Menüs gibt es nicht bloß im Fast-Food Restaurant, sondern eben auch in unserem Office-Programm. Warum also kann ich nicht in der Gemeinde wählen, welche Beilage ich zur Predigt hätte? Eher Salat oder Pommes bzw. eher Choral oder Lobpreis?
…technisch aufgerüstet
Technisch aufgerüstet haben inzwischen auch mittlere und kleine Gemeinden. Ein Mischpult, ein Keyboard oder E‑Piano, Schlagzeug, Gitarre, E‑Bass, sie ergänzen die Orgel und die Blechbläser-Gruppen. Allein: Sie brauchen Menschen am Mischpult, die aus den zahlreichen akustischen Quellen erst (und das in Echtzeit) Musik machen. – Statt des Gesangbuches gibt es Medienprojektionen und Monitore für die Texte, teils auch Noten. – Wenn da etwas hakt, dann endet der Gesang der Gemeinde abrupt. Nichts geht mehr. (Alle Mucker stehen still, wenn dein starker Arm es will – alte Tontechnikerweisheit…)
Wir wünschen uns Video-Clips in Predigten, Medien-Animationen. Nicht nur kostet deren Erstellung viel Zeit und Kraft (und: wenn eine Predigt von 20 Min. rund acht Stunden Vorbereitung braucht, sind wir hier schnell beim Doppelten bis Dreifachen: Wer stellt dafür die Pastoren frei? – und: Neue Studienfächer neben Predigtlehre, Kirchengeschichte, Neuem Testament: Drehbuch-Schreiben und Videoschnitt?), sondern: Es handelt sich um erhebliche Fehlerquellen, wenn etwas nicht klappt (HDMI-Kabel zu lang für 4k, Beamer-Ausfall, …).
Wir haben also einen Wandel in der geistlichen Kultur und im technisch-musikalischen Stil der Gottesdienste. – Daneben aber gibt es einen wachsenden Anteil der Christenmenschen, bei denen feste Zeiten und Orte eines Ortsgemeinde-Gottesdienstes gar nicht passen. Weil sie unterwegs sind, mal ein halbes Jahr in Berlin, dann drei Monate in Singapur. Unter der Woche ist Zeit, aber nicht, um ein Dutzend Gemeinden in der Nachbarschaft kennenzulernen. Also eher virtuelle Hauskreise, vielleicht Bibel-TV, eBooks und Podcasts.
Sport und Eventkultur
Keineswegs ist heutzutage der Sonntag ein gesellschaftlicher Ruhetag. Viele müssen arbeiten, in der Pflege, in Tankstellen, Bäckereien und in der Gastronomie. In dem Maße, wie die Arbeitswelt flexibler geworden ist, wird auch die Freizeit (in Familien und Vereinen) flexibler. Kaum ein Sportverein verzichtet auf die Wettkämpfe am Sonntag, denn da können ja mehr teilnehmen als sonst. – Und die gehen dann eben nicht in Gottesdienste. Entweder – Oder.
geistliches Einüben ist primär
Andersherum gedacht: Wenn es zunächst einmal um gelebte Nachfolge geht, also ums Christsein im Alltag, dann braucht dies neue Formen für mich. Einen Modus, in dem ich Glauben lebe. Mit praktischer Anwendung und spiritueller Einkehr und dem Innehalten. – Das ist nicht Gemeinde und schon gar kein Sonntagsgottesdienst. Vielleicht ist die Grundlage ja eher eine Zeit mit Gott an jedem Tag. Meinetwegen das Gebet beim Spaziergang (Geh-Bet), vielleicht das Besser-Kennenlernen der Pläne Gottes, wenn ich die Texte eines Bibelleseplanes lese. Ich versuche meine alten Sprachen zu pflegen, regelmäßig etwas aus dem hebräischen AT und dem griechischen NT zu lesen, und dazu etwas aus der lateinischen Patristik. Schadet nicht, neben php und Englisch.
Der Alttestamentler Otto Kaiser empfahl mal: In jedem Jahr ein aktuelles Fachbuch jedes theologischen Faches zu lesen, also Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie und Praktische Theologie.
Für mich kann ich sagen: Hauskreise und kleine Gruppen sind mir unersetzlich. Auf Gottesdienste könnte ich notfalls verzichten. Auf Hauskreise und kleine Gruppen nicht.
Alles andere, was dann (und dazu) kommen kann, ist ein Mehrwert, aber eben auch ein erheblicher Mehraufwand. Gebäude, Hauptamtliche, gemeinsame Zeiten, Technik-Team, Musik-Team, Lektorin und Begrüßungsteam… Ja, alles gut, wenn man es hat. Aber zunehmend schwieriger zu finden. Zumal wöchentlich, in Pandemie-Zeiten und in den Ferien.
früher war alles besser…?
Es gab doch mal Zeiten, da war das kein Problem? – Ja, aber da war für viele »Kinder-Kirche-Küche« der Wirkungsbereich für Frauen. Das kann man heute nicht wollen. Nebenbei: Viele Familien sind längst auf zwei Einkommen angewiesen. Und – Gott sei’s geklagt – auch in frommen Kreisen gibt es mehr Trennungen und Scheidungen. Ich mag nicht beurteilen, ob die Variante, dauernd zerstritten beisammen zu bleiben besser ist. Wage aber, das zu bezweifeln.
Kurzum: Die Kultur unserer Zeit wandelt sich, auch in Gemeinden und frommen Kreisen. – Und: Manche klagen, dass es früher doch so schön war, stellen fest, was heute alles nicht mehr geht. – Heute geht manches anders. Das eröffnet neue Herausforderungen, unser Leben als Einzelne und als Gruppen, Kreise, Gemeinden und Kirchen verantwortlich zu gestalten. Das finde ich nicht schlimm oder tragisch, sondern vor allem anders, denn weniger ist vorgegeben und festgelegt.
Wie ein nahegelegenes Zementwerk früher warb: Es kommt drauf an, was wir draus machen… – und das gilt nicht nur für Beton, sondern auch fürs Leben als Christenmensch.
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