Lan­ge – rund 150 Jah­re lang – funk­tio­nier­ten Gemein­den nun als Ver­ei­ne. Mit Vor­stand, mit Kas­sen­füh­rung usw. Man traf sich zum Ver­eins­zweck: Got­tes­diens­te, Andach­ten usw., betrieb Jugend­ar­beit (so wie jeder Sport­ver­ein oder jede Orts­feu­er­wehr) und schau­te, dass die Arbeit auch in Zukunft wei­ter­ge­führt wer­den kann. Ges­tern sprach ich mit einem lie­ben Men­schen aus mei­ner Gemein­de, der sag­te, dass er zuneh­mend weni­ger von der Gesamt­kir­che sich erwar­te und erhof­fe, und alle Hoff­nung und alles Enga­ge­ment in sei­ne Gemein­de set­ze. Das ist eine Umge­hens­wei­se mit der Situation.

Mir scheint, dass das Ver­eins­mo­dell an sich an sei­ne Gren­zen gekom­men ist. Das hat vie­le Ursa­chen. Dass wir so weit aus­ein­an­der woh­nen, dass es also nicht eine klas­si­sche Orts-Struk­tur gibt, ist sicher ein Fak­tor. Das macht Gemein­de stets zu etwas, zu dem man sich »auf­ma­chen« muss. Hin­zu kommt, dass die For­men und Geschmä­cker zuneh­mend weni­ger gemein­sa­men Nen­nen haben. Das gilt glei­cher­ma­ßen für die Musik und die Sti­le. Da ist nicht so etwas wie eine ein­heit­li­che Form zu fin­den, mit der alle gut leben könn­ten. Und: Die Brü­cke zwi­schen klas­si­schem Cho­ral und zeit­ge­nös­si­scher christ­li­cher Musik (auch die sehr viel­fäl­tig) ist kaum mög­lich. Paul Ger­hard mit Schlag­zeug passt eben­so wenig wie christ­li­cher Punk mit Gei­ge und Cello.

Es setzt sich aber weit dar­über hin­aus fort: Auch die Arten der Pre­digt usw. sind unter­schied­lich, sowohl die, die unter­schied­li­che Men­schen sich wün­schen und brau­chen, alsauch die, die gebo­ten wer­den. – Für immer mehr steht auch das The­ma des »Leh­re bedeu­tet zuzu­hö­ren, was ein älte­rer Bru­der sagt« als Gan­zes zur Dis­kus­si­on. Hier wären koope­ra­ti­ve Got­tes­diens­te eher eine Form. Oder Haus­krei­se oder so. Jeden­falls seg­men­tiert sich die Welt an sich und auch die from­me Welt zuneh­mend. Wir zer­split­tern und durch unse­re Lebens­rhyth­men, durch die Orte und Zei­ten, an denen wir arbei­ten (wenn eini­ge wochen­wei­se nicht da sind, ist eine Mit­ar­beit, die Anwe­sen­heit vor­aus­setzt, schwierig).

Statt des­sen ent­wi­ckeln sich neue For­men: Es gibt Pod­casts und Blogs, You­tube und Zoom/Jitsi und wie sie alle hei­ßen. Man­che haben per Whats­App einen Gebets­kreis. Das alles besteht neben den klas­si­schen ver­eins­ar­ti­gen Struk­tu­ren. An denen aber neh­men etli­che immer weni­ger Anteil. Und von Mal zu Mal wird es schwie­ri­ger, über­haupt hin­rei­chend Kan­di­die­ren­de zu fin­den, die bereit sind, die gewähl­ten Ämter zu über­neh­men. – Ich selbst bin es nicht mehr, zum Beispiel.

Das Mitglied (K. Tucholsky)

»In mein’ Ver­ein bin ich hineingetreten,
weil mich ein alter Freund dar­um gebeten,
ich war allein.

Jetzt bin ich Mit­glied, Kame­rad, Kollege –
das klei­ne Band, das ich ins Knopf­loch lege,
ist der Verein.

Wir haben einen Vorstandspräsidenten
und einen Kas­sen­wart und Referenten
und obendrein

den mäch­ti­gen Krach der oppositionellen
Mino­ri­tät, doch die wird glatt zerschellen
in mein’ Verein.

Ich bin Ver­wal­tungs­bei­rat seit drei Wochen.
Ich will ja nicht auf mei­ne Wür­de pochen –
ich bild mir gar nichts ein …

Und doch ist das Gefühl so schön, zu wissen:
sie kön­nen mich ja gar nicht missen
in mein’ Verein.

Da drau­ßen bin ich nur ein armes Luder.
Hier bin ich ich – und Mann und Bundesbruder
in vol­len Reih’n.

Hoch über uns, da schwe­ben die Statuten.
Die Abend­stun­den schwin­den wie Minuten
in mein’ Verein.

In mein’ Ver­ein werd ich erst rich­tig munter.
Auf die, wo nicht drin sind, seh ich hinunter –
was kann mit denen sein?

Stolz weht die Fah­ne, die wir mutig tragen.
Auf mich könn’ Sie ja ruhig ›Och­se‹ sagen,
da werd ich mich bestimmt nicht erst verteidigen.

Doch wenn Sie mich als Mit­glied so beleidigen … !
Dann steigt mein deut­scher Gruppenstolz!
Hoch Stol­ze-Schrey! Frei­heit! Gut Holz!
Hier lebe ich.
Und will auch einst begra­ben sein
in mein’ Verein.«

Theo­bald Tiger
Die Welt­büh­ne, 01.06.1926, Nr. 22, S. 865,
wie­der in: Mit 5 PS. (Da Tucholksy 1935 gestor­ben ist, sind sei­ne Tex­te seit 2006 gemeinfrei)

Kurz: Ein Modell für Gemein­de, mit dem die­se seit ein­hun­dert­fünf­zig Jah­ren gut und segens­reich bestan­den haben, schwin­det. Unklar ist, ob es über­haupt ein Nach­fol­ge­mo­dell geben kann oder wird. Oder wie sich die Chris­ten­men­schen der­zeit und zuneh­mend mehr und mehr orga­ni­sie­ren und struk­tu­rie­ren wer­den, wenn eben nicht in ver­eins­ar­ti­gen Gemein­den, die gleich­sam Orts­ver­ei­ne von mehr oder weni­ger gro­ßen Kirchen(verbänden) sind.

Dass die Model­le der Ver­gan­gen­heit zuneh­mend weni­ger pas­sen, das mer­ken fast alle. Span­nend wird es aber bei den Vor­stel­lun­gen, was folgt bzw. fol­gen kann. – Dazu in einem ande­ren Bei­trag mehr.