»Innerhalb der evangelikalen Bewegung gibt es inzwischen viele Menschen, die dem klassischen Evangelikalismus nicht mehr ganz zustimmen wollen. Etliche dieser Leute leben ihren Glauben im Privaten aus, finden aber für sich keinen Platz in den evangelikalen Kreisen. Gründe dafür können sein, dass diese Leute die erlebte Enge und den Dogmatismus nicht teilen. In ihrem Denken sind sie stark von der Postmoderne geprägt. Auch die evangelikale Subkultur (v. a. in den USA) mit ihren speziellen Gottesdiensten, Kirchenzentren, Musik und Literatur sowie teilweise kommerzialisierten Auswüchsen wird kritisch hinterfragt.
Als Bewegung lässt sich der Post-Evangelikalismus[114] nicht konkret umschreiben. Die Verbindung zwischen post-evangelikal und evangelikal lässt sich sowohl als Kontinuität als auch als Diskontinuität beschreiben. Das Verhältnis spiegelt im Wesentlichen die Entwicklung von der Moderne zur Postmoderne wider.
Einen hohen Stellenwert nimmt im Verständnis der Bibel und der Gemeinde die Kultur ein. Die kulturelle Relativität muss sowohl bei der Bibelauslegung als auch dem Gemeindebau berücksichtigt werden. Eng verbunden mit dieser Ausrichtung ist die unter Konservativ-Evangelikalen umstrittene Emerging Church, die versucht Gemeinde und Theologie postmodern neu zu entwickeln…«
so Wikipedia hier.
Ich finde mich hier noch am ehesten wieder. Mir geht es um Christus-Nachfolge. Mir geht es um Heiligung, darum, dass mein Leben — und gerne auch das meiner Gemeinde usw. — dem Plan Gottes für dieses Leben ähnlicher werden.
Die klassischen vier Seiten des Bebbington-Quadrilaterals (– sie dienen vielen als quasi-Definition für Evangelikalismus) bleiben mir wichtig:
- Bibel-Frömmigkeit
- Christus-Frömmigkeit (mit Betonung von Kreuz und Auferstehung)
- Bekehrung
- Ausbreitungswille (Evangelisation, Mission und Diakonie als Wirkweisen des Evangeliums)
Nachdem aber der Begriff des Evangelikalismus mehr und mehr vereinnahmt wird zum einen von der religiösen Rechten und (vielleicht am schlimmsten) von den Freunden eines Wohlstands-Evangeliums (Prosperity Gospel), das mir zumindest nicht recht zu den alttestamentlichen Sozialpropheten zu passen scheint.
Wie sich die Stränge der evangelikalen Bewegung seit den Erweckungsbewegungen des 17. – 19. Jahrhunderts entwickelt haben, kann man nachlesen. Je nach Region (in Deutschland Pietismus, in England Methodismus, in den USA Great Awakening usw.) gab es unterschiedliche Schwerpunkte. Eine generelle Konfliktlinie ergab sich mit dem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert aufkommenden christlichen Fundamentalismus. Die einen wollten an Christus allein festhalten, die anderen grundlegende Nägel einschlagen, etwa hinsichtlich der Irrtumslosigkeit der Bibel usw. Als nicht-Fundamentalist sage ich bewusst wertend: Sargnägel des Evangeliums, denn Christus ist das eine Wort Gottes.
Streit um die Grenze zwischen Gemeinsamem und Trennenden
Gemeinde ist mir wichtig. Gemeinde als konkrete Gemeinschaft mit anderen Christenmenschen. Mehr und mehr bestehen einige auf einer Festlegung, auf einer klaren und definierten Grenze zwischen »drinnen« und »draußen«. Woran sich die Grenze festmacht, das ist je verschieden. Einigen ist ein bestimmtes Textverständnis wichtig. Anderen die Frage des Umgangs mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Bei anderen war es schon in der Frage der Frauenordination so, dass sie aus diesem Grund nur eine Gemeinde wählen könnten, in der keine Frauen leitend und verkündigend wirken.
Die Kriterien sind mehr oder weniger beliebig, alle mehr oder weniger biblisch begründbar. Gemeinsam haben diese Abgrenzungs-Fans, dass sie das Evangelium bzw. das wahre Christsein vor allem in gemeinsamen Feindbildern festmachen. Auch völlig klar: Selbst steht man stets auf der richtigen Seite, Zweifel gibt es da keine.
Ich selbst habe mehr Fragen als Antworten. Ich kann für mein eigenes Leben und mein Denken einigermaßen sagen, was passt. Billige anderen aber durchaus zu, dass die das anders sehen können. Ich merke, wenn ich etwa an die Entwicklungen in den letzten zehn Jahren in der frommen Szene, in der Evangelischen Allianz, in der Gemeinschaftsbewegung usw. denke, dass mir die Heimat, die ich vor zehn Jahren noch im Bereich Links-Evangelikal angegeben hätte, zunehmend weniger passt. Der Begriff »evangelikal« passt nicht mehr, auch weil er dermaßen vereinnahmt wurde.
Mein Unwohlsein geht aber weiter. Die klassischen Deutungen des Kreuzesgeschehens finde ich passend, aber kaum mehr denkbar ohne ein gerütteltes Maß an geistesgeschichtlichem Bewusstsein. Ich kann rekonstruieren, was die, die es gedacht haben, gemeint haben könnten. – Es eignet sich aber immer weniger, dies auf Straßen und Plätzen im Sinne eines platten Wirklichkeitsverständnisses den Menschen anzubieten, denn es ist schlicht kulturell nicht verständlich. – So schreibe ich hier, und gleich beginnt mein Hauskreis per Videokonferenz über die Passionserzählung im Markusevangelium.
Gerade weil ich die Gegenüber ernst nehme, möchte ich verständlich vom Evangelium reden, wenn ich etwas sage. Diese Bereitschaft, mich auf unsere Zeit einzulassen, halte ich für unverzichtbar, wenn mir die Gegenüber am Herzen liegen. – Und ich erlebe, dass unsere Gottesdienste, unsere Sprechweisen als Christenmenschen und besonders als Gemeinden von der Kultur unserer Umwelt oft sehr weit entfernt sind. Also für normale Weltmenschen oft völlig unverständlich.
post-evangelikal?!
Post-evangelikal stellt eher fest, was etwas nicht (mehr) ist: nämlich klassisch evangelikal. Dabei sind viele Inhalte und Sichtweisen identisch. So richtig aber passt die Schublade nicht. Das liegt vor allem an der Kultur, die mir sehr wichtig ist, die überhaupt erst den Worten und Begriffe ihre Bedeutung gibt. Man kann, so meine ich, nicht überzeitlich reden. Worte bedeuten zu einer Zeit etwas und für eine Diskursgemeinschaft. — Das hätten wahrscheinlich Billy Graham & Co. nicht als so wesentlich angesehen.
Das Verhältnis von evangelikal und post-evangelikal ist in der Tat ähnlich wie das von Moderne und Postmoderne. Wir Postmodernen möchten ja nicht in vor-moderne Zeiten zurück, vermutlich 80 % unseres Denkens bleiben modern. Aber es passt eben nicht überall. Und das drückt die Silbe »Post-« aus. Wikipedia spricht von Kontinuitäten und Diskontinuitäten.
Ich stelle nur fest, dass mancher Dogmatismus mir immer weniger einleuchtet. Weil Glaube und Nachfolge aber Beziehungsprozesse sind, also eine Bindung zwischen Jesus und Menschen beschreiben, und diese Beziehung fluide ist, sich verändert, passen eingeschlagene Nägel (wie es die Fundamentalisten versuchen) schon gar nicht.
Wenn ich selbst da nicht allein einer bin, den diese Fragen umtreiben, sondern es sich offenbar um eine Bewegung handelt, die immerhin schon einen Absatz im Wikipedia-Artikel »Evangelikalismus« wert ist, dann frage ich mich, wie sich all dies auf die Zukunft von Kirche und Gemeinde auswirken wird. — Ein Thema für weitere Beiträge, für heute ist erstmal Schluss.
Ich merke: Aus den alten Schuhen bin ich herausgewachsen, bei allen bleibenden Sympathien etwa zu Jim Wallis und den Linksevangelikalen. Die neuen Schuhe habe ich noch nicht und ich weiß noch nicht einmal, ob es eher Stiefel oder (bei mir wahrscheinlicher) Sandalen werden.
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