Einerseits ist die Postmoderne in aller Munde, und als Begriff eingängig, gut zu merken. Sie ist gleichzeitig ein Modewort geworden wie ein Totschlagargument für und gegen alles. Wer von Postmoderne redet, der findet schnell Feinde auf allen Seiten. Besonders ausgeprägt ist natürlich (bzw. kultürlich) die Abneigung gegen alles Postmoderne bei denen, die traditionell zu denken — und besonders zu glauben — vorziehen.
Glaube gehört in eine Zeit und Kultur
Wer »Give me that ol‹ time religion… it’s good enough for me« singen möchte und sich damit in der Gemeinschaft der Jünger, Apostel, Märtyrer und Reformatoren wähnt, der geht in die Irre, so behaupte ich. So kann man nicht glauben, denn unser Leben, unser Sprechen und unser Glauben gehören zueinander. — Und daher wäre vielleicht der Begriff der Kontextualität oder der Intertextualität (letzteres ein Begriff, den Umberto Eco vorzog) eher passend. Es geht ja eben darum, dass wir in einer Kultur leben und eben dort auch als Christenmenschen Nachfolge leben. Christsein ist gleichsam unser Betriebssystem. Wir arbeiten, wir gestalten Familie, wir haben Lebensweisen und Praxen, die sämtlich in unsere Zeit passen. Hoffentlich.
Kultur-Ausstieg ist keine Lösung
Sicher kann man aussteigen: Das tun etwa die Amish. Mir sind die Menschen sympathisch, aber ich halte die Art, sich kulturell im 17. Jahrhundert einzuigeln, gelinde gesagt für etwas befremdlich. Auch halte ich Glauben eher für eine gute Voraussetzung, die innere Mitte nicht zu verlieren, wenn die Welt sich gefühlt immer schneller dreht. Kultureller Wandel wird befördert durch ein Mehr an Medien und damit an Sachverhalten und Zusammenhängen, von denen wir etwas wissen können. Kein Wunder, dass uns der Kopf raucht. Glaube ist nicht nur eine Bindung an Gott, sondern wird oft auch in einer stabilen Beziehung mit anderen Menschen gelebt. In einer Familie, in einem Hauskreis, in einer Gemeinde. Alle diese Faktoren geben Stabilität, denn auch dann, wenn sich vieles ändert, so bleiben wichtige Bezugspunkte stabil.
In unserer Zeit graben einerseits die, die sichere Grundlagen möchten, am lebendigen und agilen Glauben. Sie möchten betonieren und sichere Fundamente selbst gießen. Dazu beschließen einige Chicagoer Erklärungen und damit eine Irrtumslosigkeit der Bibel, die ich als Ent-Kontextualisierung begreife: Dass die Texte in unserer Bibel über Jahrhunderte gewachsen sind, und dass sie vor langer Zeit abgefasst wurden, und viel vom Leben und Denken der Abfassungszeit in den Texten selbst Niederschlag gefunden hat, das ist mir grundlegend. Wenn man mit Bekenntnisschriften ähnlich umgeht, wird das Ergebnis nicht besser. Von wegen: Kein anderes Evangelium. Von wegen: Bibel und Bekenntnis. — Die neuen Fundamentalismen versuchen die Tanzbeine zwar nicht abzusägen, aber immerhin festzunageln.
Neu-Aufklärer: Alle anderen sind Spinner!?
Dass auf der anderen Seite mehr und mehr Menschen mit Glauben an sich gar nichts anzufangen wissen, weil sie ihn für eine Art des Weltdeutens halten, die ähnlich abstrus und spinnert ist wie die von anderen von Verschwörungsanhängern. Sicher: Euer Gott hat sich selbst hinrichten lassen in Christus. Und die Welt wurde in sieben Tagen geschaffen. Das ist auf gleicher Ebene wie die Wirksamkeit von Bachblüten oder die Gefahr von Kondensstreifen. Für die Neu-Aufklärer sind weder Nationalismen noch ein Glaube an den Kommunismus, keine Homöopathie und eben auch kein Glaube an ein Wirken Gottes erträglich. Sie haben sich damit abgefunden, dass es für jeden Blödsinn eine Gruppe von Anhängern gibt. Von denen aber sollte man Abstand halten. Diese Spinner können gefährlich werden, wie sich bei Q‑Anon am 6. Januar in den USA gezeigt hat.
Eine Sicht unterschlägt die Effekte der Beobachtenden
Kurz: Die Fundamentalisten und die Neu-Aufklärer möchten beide festhalten, dass es genau eine zulässige Sicht auf die Welt geben, nämlich die je ihre. Und beiden Gruppen ist der Kontext, also das Nachdenken über die Zusammenhänge unserer Weltsicht und ‑erkenntnis ein Graus. Es kratzt massiv an den eigenen Grundverständnissen und erforderte, sich selbst Rechenschaft darüber zu geben, was wir da zu welchen Zwecken denken und als sichere Grundlage annehmen. In der Postmoderne ist nichts sicher. Das mögen beide Gruppen nicht. — Drum schlagen sich auf den Begriff ein, in der Hoffnung, mit dem Kampf gegen den Begriff die erstrebte Sicherheit der Welt — wie sie eben ist — wieder erlangen zu können. Ich fürchte, dass das nicht gelingen wird.
Zu Begreifen, dass auch unser Welt- und Gottesbild etwas sind, bei dem die Beobachtenden die Messung beeinflussen, das ist eine Erkenntnis, die sich nicht allein in der modernen Physik bemerkbar macht. Alle, die sich mit Sprachwissenschaft, mit Hermeneutik, Semiotik und Semantik befasst haben, wissen, wie wichtig der Kontext, der Zusammenhang, ist. Dass etwas nicht etwas bedeutet, sondern für jemanden etwas bedeuten kann. — Und da beginnt dann die Handlungstheorie und die Theorie der Sprechakte.
So hoch müssen wir es aber nicht hängen.
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