Das Konzept der Evangelisation, also das (Neu-)Wecken von Glauben bei Menschen, die sich bisher nicht bewusst als Nachfolger/innen Christi verstehen, zielt auf den Ausbau des Reiches Gottes. — Gemeindeaufbau hingegen zielt auch darauf, aber hinsichtlich einer Gemeinde. Da es in Städten stets mehrere oder viele Gemeinden gibt, die teils bei Evangelisationsveranstaltungen zusammenarbeiten, stellt sich für mögliche Neu-Christenmenschen die Frage, wo sie denn anschließend Glauben mit anderen leben möchten. In der Regel wird die erste Wahl die größte oder attraktivste Gemeinde sein, die bei einer Evangelisation mitwirkt. Eine Jugendgruppe mit vielen anderen ist einfach attraktiver als ein kleines Häuflein, es sei denn, da sind die coolen Leute.
Evangelisation wirbt leicht für die größte beteiligte Gemeinde
Und heute stellt sich diese Frage besonders, denn es gibt ja auch die Möglichkeit, dass sich beispielsweise keine passende Gemeinde findet. Ein Beispiel: Wenn jemand sich vom Evangelium angesprochen weiß, auch von den freundlichen Menschen, die in eine Stadthalle eingeladen haben, dabei aber feststellt, dass die eigene sexuelle Identität in keine der beteiligten Gemeinden recht reinpasst, wird die Person hoffentlich weiter als Christenmensch in der Nachfolge leben: Bloß nicht in einer der Gemeinden, die diese Evangelisation getragen haben. Einfach weil das nicht passte.
Es gibt andere Netzwerke, Tagungen, zwischendurch Angebote im Internet usw. Virtuelle Hauskreise. Ein Segen, dass wir heute leben. — Gemeinden können mehr oder weniger vielfältig sein, die meisten sind es aber nicht. Das folgt daraus, dass es gemeinsame Nenner braucht, also eine gewisse Übereinstimmung. Nicht allein im Glaubensbekenntnis, sondern in der Art und Weise, wie eine Gemeinde lebt und läuft. Wer prägt die Gemeinde, wie ist die Alters- und Millieustruktur? Es ist einfach einfacher, wenn alle ähnlich gestrickt sind, dann lassen sich auch gut ein paar Ausreißer verkraften. Eine Gemeinde völlig unterschiedlicher Menschen aber trägt viele Sollbruchstellen in sich.
Kurz: Natürlich sind Gemeinden ein Stück vom Reich Gottes. Gemeindeaufbau aber muss nach der Passung neuer Menschen zu den vorhandenen fragen, muss neben einer Kultur der Nachfolge und des gelebten Glaubens auch in den Blick nehmen, welche Gottesdienstkultur und welche Formen der Nachfolge in der Gemeinde (bisher) praktiziert werden. Vor Jahren brachte das immer wieder Bruchkanten zwischen evangelikalen und charismatischen Aufbrüchen zum Vorschein. Heute zeigen sich neue Trennlinien, etwa bei bestimmten Formen von Musik oder Predigtstilen.
Weil hier Gottes Reich ist, ist es so gut, wie es ist…
So denken viele Gemeinden. Das kann auch so sein. Bloß muss nicht alles, was hier und Gottes Reich ist, so, wie es ist, passen für alle. Bis heute sind die meisten Gemeinden denkend nicht in dieser Pluralität angekommen, dass nämlich auch die anderen Gemeinden Reich Gottes sind. Klar, in der Allianz Gebetswoche, da sind das die formalen Bekenntnisse zueinander.
Im Rest des Jahres aber schätzen wir die Geschwister anderswo: Sie sind wie entfernte Verwandte, die man (glücklicherweise) nicht immer um sich hat. So lassen sich die Familientreffen leichter überstehen. Eben als das Besondere und nicht als alltäglich.
Wenn wir dahin kommen, dass wir je unsere Art und Weise, unseren Glauben zu leben, als für uns spezifisch zu begreifen, dann müssten wir ja davon Abstand nehmen, uns als wie Jesus zu begreifen. Denn das sind wir nicht. Wie leben unter völlig anderen Verhältnissen in einer ganz anderen Zeit. Viel von unserer Glaubenspraxis (und auch von der anderer) ist eben dieser Zeit und diesen Verhältnissen geschuldet.
Wir haben stets Nachfolge in der Zeit, nie in Reinform
Selbst dann, wenn wir Jesus-Nachfolge für evangelikal erforderlich halten, so ist dieses Nachfolge doch ganz anders als die der Geschwister in der alten Kirche (besser in den alten Kirchen). Höchst wahrscheinlich ist auch, dass die Generation unserer Enkel, wenn es die denn gibt und nicht vorher Christus wiederkommt, in ganz anderer Art und Weise ihre Nachfolge leben wird. Auch sie werden sich als »Christus-zentriert« begreifen, wenn sie denn Christenmenschen werden.
Wer diese Vielfalt nicht erträgt, die oder der ist selber schuld. Es liegt nicht an Christus! – Ich gehe so weit, dass ich einräume, dass Gemeinden sich überleben können. Sie sind für eine Zeit passend (gewesen), reifen aber nicht, während sich alles um sie herum verändert. In solchem Fall gehen ja nicht die Menschen verloren, sondern sie organisieren sich anders: In einer anderen Gemeinde oder in mehreren, in anderen Formen, etwas losen Netzwerken, oder anders. Die Beziehung von Christus und seinen Leuten ist davon unbeeinflusst, ob ein Gemeindevorstand seinen Laden gegen die Wand fährt.
Insofern: Gut so, dass Evangelisation ein völlig anderes Konzept ist als das des Gemeindeaufbaus. Ich gebe im Zweifel (bei aller Liebe zu und Sympathie für Gemeinde) der Evangelisation klar den Vorzug. Im Zweifel baue ich viel lieber Gottes Reich als Gemeinde.
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