Erstaunlich ist, dass Gott uns zutraut, dass wir Entscheidungen treffen. Ja, wir können irren. Wir verfolgen manchmal eigene Ziele, obwohl wir wissen, dass diese nicht gut sind — weder für uns noch für andere.
Warum ist es so üblich, dass Christenmenschen meinen, sie müssten anderen sagen, was die je anderen tun oder lassen sollen? Gehören nicht Fehler und Scheitern zu unserem Mensch-Sein?
Bei Heranwachsenden ist ein ganz wesentlicher Prozess, eigene, auch falsche, Entscheidungen zu treffen. — Wie sollen wir das denn sonst lernen? Dabei spielt eine Rolle, was wir zuvor gelernt haben, nicht allein an Wissen, sondern auch an Werten, an Umgang mit uns und anderen. Es gehört auch auch dazu, Entscheidungen als Chancen zu sehen, nicht bloß als Gefahren.
Wenn Gott uns Menschen die Freiheit gibt, sich auch gegen ihn zu entscheiden, wenn er eben nicht wie ein Freudsches Über-Ich alles überwacht und beurteilt, dann sollten wir, die wir mit ihm leben, ähnlich auch den anderen Entscheidungen zutrauen, selbst dann, wenn wir diese für unpassend oder falsch halten.
Wenn wir anders handeln, dann nehmen wir die anderen nicht ernst. Unmündig, das bedeutet vor allem: Sie haben nichts zu sagen. So möchte keine Bürgerin vom Staat betrachtet werden und kein Partner von der Partnerin. Nicht einmal die Gemeinde möchte so von der Pastorin bevormundet werden.
Das aber ist eine der steten Herausforderungen: Der schmale Grat zwischen Gleichgültigkeit und Bevormundung. Auch hier sehe ich bei Gott ein vorbildhaftes Handeln, dem ich gerne nacheifern möchte. Wenn etwa Amos oder Micha berufen werden, zu den führenden Menschen des auserwählten Volkes geschickt werden oder auf den Markt, dann ist das ein warnender Hinweis Gottes. Es ist ihm eben nicht gleichgültig, was das Volk tut und wie die Nachbarvölker leben. Die Tatfolgen werden benannt: Trockenheit und Missernte folgt auf Frevel gegen Gott durch Übervorteilen der Armen.
Die Propheten weisen drauf hin, was folgt. Sie rufen zu Umkehr. Aber sie erlauben, dass die nicht umkehren, die ihre Predigt, ihr prophetisches Wort hören.
Wenn Ende des 19. Jahrhunderts die Temperenzler-Bewegung vor Alkoholismus warnte, tat das sicher Not. Als dann aber die Prohibition als Verfassungszusatz in den Vereinigten Staaten eingeführt wurden, war das eine Bevormundung, die die Mehrheit der Bevölkerung, auch derjenigen an der Macht, nicht wollte. — Entsprechend scheiterte das Experiment (übrigens als bisher erster zurückgenommener Verfassungszusatz.)
Warum haben heutzutage Evangelikale fast überall so eine paternalistische Agenda? Klar, es gibt die Links-Evangelikalen und die Post-Evangelikalen; da ist das teils anders. Ich denke bloß, dass die, die andere nicht ernst nehmen, diese nicht werden gewinnen können. Denn niemand möchte auf Dauer als unmündig gelten.
Auch hierzulande ist bei allen bisher gut beherrschten Corona-Folgen eine wachsende Stimmung wider die Bevormundung und Beschränkung ohne demokratische Legitimation ein Thema. Nicht dass es Beschränkungen von Freiheiten gibt, ist das Problem, sondern dass diese von der Exekutive, also der Regierung verfügt werden, statt über ein Gesetzgebungsverfahren demokratisch legitimiert zu sein. Das ist wie das Regieren mit Notverordnungen, und da haben wir in der Weimarer Republik ein historisches Beispiel, das in der Folge allergrößte Schwierigkeiten brachte.
Wenn also ein ernst-Nehmen des Gegenübers geschieht, wenn wir in den Gemeinden und Kreisen den anderen zutrauen, dass die das für sie und Gott Richtige tun, dann ist viel gewonnen. — Ich spreche hier nicht von einer Gleichgültigkeit, sondern von einer Verantwortungsethik, die den einzelnen zumutet, nicht nachzubeten, was der Pastor oder der Gemeindevorstand sagt, sondern selbst zu entscheiden, was Gott möchte, dass sie tun sollen.
Vieles lernen wir durch Vorbilder. In der Familie (wenn es gut läuft), in der Schule, in der Gemeinde. — Schlimmstenfalls lernen wir es im Gegensatz zu (negativen) Vorbildern: »So wie XY will ich nie werden.« — Eben darum denke ich dann drüber nach, wie ich denn leben möchte, wie ich mich entscheiden möchte. Hoffentlich tue ich es auch. Hilfreich finde ich es, wenn es Menschen gibt, die es gut mir meinen, die ich befragen kann, ohne dass sie eigene Interessen verfolgten. Oft kann der Rat so einer Person bei schwierigen Entscheidungen helfen.
Zum Raten und zur Begleitung anderer ist eine Grundvoraussetzung ein herrschaftsfreier Diskurs. Man könnte auch sagen: Wenn ich (zu) betroffen bin und Gewaltmittel an der Hand habe, ist es schwierig zu raten. Ich wäre dann involviert. So etwa Eltern beim Heranwachsen der jugendlichen Kinder. Da braucht es andere Ratgeber und Begleiter besonders. Wenn es gut geht, dann kann ich aber ein neues Verhältnis zwischen den Generationen entwickeln — gerade dann, wenn die Machtmittel sich anders verteilt haben.
Letztlich ist klar: Wir haben einander nicht in der Hand. Wir können einander Weggefährten sein, für ein Stück des gemeinsamen Lebenswegs. Aber das ist eben bloß ein Stück des Wegs. Die Älteren sterben, die Jüngeren rücken nach. So verändern sich Staaten und Kirchen. Das ist vermutlich zu allen Zeiten so gewesen. — Das Beste, das ich tun kann, ist: In der Liebe zum Gegenüber und zu Gott mein Leben zu gestalten. In Verantwortung, die ich wahrnehme.
Politische Kategorien passen auf Gott kaum. Das ist klar. Dennoch empfinde ich seinen Wunsch nach einem echten Gegenüber beachtlich, denn er könnte es anders haben. Das aber wäre nicht dasselbe. Insofern ist Gott erstaunlich liberal, bis hin zur Sendung Christi als ein Angebot, das die meisten nicht annehmen.
Manche Fromme heute treten auf mit einem Angebot, das man nicht ablehnen sollte. Wie Mafiosi, die Schutzgeld von Wirten erpressen. Eben ganz ohne die Freiheit, anders zu entscheiden. Ich kann es verstehen, denn die Sorge ist, dass die, die Gottes Angebot ablehnen, verloren gehen könnten. Das ist eine (massiv empfundene) Gefahr.
Wenn es Gott aber anders macht, warum machen es seine Leute nicht so wie er? Wäre nicht auch diesbezüglich Nachfolge, das zu tun, was Gott tat: Zuzusehen, wie nur einer von zehn Geheilten umkehrt? Es hinzunehmen, dass die Menschen sich immer wieder von Gott abwendeten?
»Ich streckte meine Hände aus den ganzen Tag nach einem ungehorsamen Volk, das nach seinen eigenen Gedanken wandelt auf einem Wege, der nicht gut ist; 3 nach einem Volk, das mich beständig ins Angesicht kränkt« (Jesaja 65,2f)
Liebe bedeutet bisweilen, zusehen zu müssen, wie jemand Fehler macht und einen anderen, bisweilen Gott, bisweilen mich kränkt. Warum sollten wir Christenmenschen es da besser haben als Gott?
Liebe bedeutet aber auch, die Hand den ganzen Tag lang nach dem anderen auszustrecken, da zu sein. Immer wieder… — Bisweilen ist Nachfolge anstrengend. Das aber ist nicht verschieden von dem, wie die Beziehung Gottes zu seinen Leuten schon immer war. Warum sollte es uns da besser gehen als Gott?
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