Diese Feststellungen hat Bonhoeffer bereits vor 1944 gemacht, denn in seinen Briefen an Freund Bethge denkt er darüber nach, was daraus folgt, dass die Menschen mehrheitlich nichts vermissen, wenn sie nicht an Gott glauben.
Sein »Doktorvater« Reinhold Seeberg hatte den Ausdruck vom »religiösen Apriori« geprägt. Damit meinte er, dass Menschen von Grund auf (in ihrer Konzeption als Menschen) befähigt sind und darauf angelegt sind, Gottes innezuwerden. Also gleichsam eine Art Urglauben mitbringen. – Von diesen (vielleicht nicht so ausgedrückten) Annahmen gehen 1900 Jahre Kirchengeschichte aus. Seit spätestens dem Hochmittelalter wird allerdings der Raum immer kleiner, der für Gott im Denken bleibt, weil die Welt und Naturbilder mehr und mehr auskommen, ohne Gott für ihre Beschreibungen der Welt und des Menschen zu benötigen.
Bonhoeffer las in der Haft u.a. C. F. v. Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik. Darin findet sich, dass Physiker Laplace auf die Frage, wo in seinem System noch Raum sei für Gott, geantwortet habe: »Ich hatte diese Hypothese nicht nötig.«
Bonhoeffer empfand die Versuche mancher Frommer als albern, der mündig gewordenen Welt zu beweisen, dass sie ohne den »Vormund Gott« nicht leben könne. Das, was einst Theologen (erfolglos) versuchten, das gingen nun die Psychotherapeuten an, die dem Menschen vermitteln wollen, dass er unglücklich und verzweifelt sei.
Die Ablehnung des »Methodismus« bei Bonhoeffer (bzw. was genau er darunter verstand) wäre noch einmal ein eigenes Thema. Jedenfalls habe der Mensch keine Zeit noch Lust, sich mit existenzieller Verzweiflung zu befassen. – Bonhoeffer spricht von einer Attacke der Apologetik auf die mündige Welt, die er für sinnlos, unvornehm und unchristlich hält.
Bonhoeffer hält es für geboten, sich nicht in die Intimitäten der Menschen hinein zu spähen (er nennt Gebet und Sexualität), um ihnen dann sagen zu können, dass Menschen Sünder sind. Er unterscheidet die (erst in der Renaissance entdeckte) »Innerlichkeit« von dem biblischen Begriff des Herzens. Dass das Herz böse sei, meine eben gerade den Menschen (den ganzen, den vollständigen) und unterscheide nicht zwischen »Innerem« und »Äußerlichem«.
Gott soll also nicht an einer allerletzten geheimen Stelle in den Menschen hineingeschmuggelt werden, sondern dass man den Menschen nimmt, und ihm seine Mündigkeit nicht madig mache. Ihn eben nicht an der schwachen Stelle mit Gott konfrontiere, sondern in der Stärke.
»Wenn Jesus Sünder selig machte, so waren das wirkliche Sünder, aber Jesus macht nicht aus jedem Menschen zuerst einmal einen Sünder.« (WuE #170, 30.06.44) Die Begegnung mit Jesus bewirkt eine Umkehrung der Bewertungen der Menschen. Dafür ist aber die Begegnung mit Jesus vorausgesetzt.
Bonhoeffer stellte fest, dass zu seiner Zeit allerhand Ansätze im Schwange waren, wie man mit dem Dilemma des mündigen Menschen und der religiösen Weltdeutung, die immer weniger passe, umgehen könne. Bultmann habe mit seiner Entmythologisierung gleichsam das Kind mit dem Bade ausgegossen und gehe reduktionistisch vor, denn die Begriffe »Gott« und »Wunder«, »Himmelfahrt« etc. seien nicht zu trennen.
Die »religiöse Interpretation« sei eben eine, die metaphysisch rede, »beides treffe weder die biblische Botschaft noch den heutigen Menschen« (WuE # 139, 05.05.1944). Bei Karl Barth sieht Bonhoeffer schon sehr viel weiter reichende Kritik der Religion (er übernimmt darin wohl Kierkegards Begriff von »Religion«). – So sehr Bonhoeffer die Barthsche Kritik am Begriff der »Religion« gefällt, so sehr lehnt er dann dessen Steckenbleiben im »Offenbarungspositivismus« ab: Denn Jungfrauengeburt, Trinität usw.: sie alle werden geglaubt, weil Gott diesen Glauben schenkt. Das müsse genügen. (für Barth – aber eben nicht für Bonhoeffer). Letztlich werde ein »Gesetz des Glaubens« (WuE # 139, 05.05.1944) aufgerichtet und die Gabe (durch die Fleischwerdung Jesu gegeben) zerrissen. So trete an die Stelle der Religion nun die Kirche, und das sei ein Fehler.
Es gab zahlreiche weitere Bewegungen, die entweder liberal (also das Evangelium verkürzend) oder restaurativ (also zurück zu Metaphysik und Innerlichkeit) ihre Programme ausrichteten. Einige wollten »religiöse Erneuerung« und »haben das Problem noch garnicht (sic) verstanden und reden gänzlich an der Sache vorbei« (WuE # 161, 08.06.1944).
Wenn es aber so sei, dass die religiöse Gestalt oder Einkleidung nicht mehr passe, dann fragen einige ängstliche Gemüter »Wo behält Gott noch Raum?« und »weil sie darauf keine Antwort wissen, verdammen sie die ganze Entwicklung, die sie in solche Notlage gebracht hat…« (WuE #177, 16.07.1944) Sie schlagen einen »salto mortale zurück ins Mittelalter«. Es gibt aber keinen Weg zurück in die Naivität! Wir müssen leben etsi deus non daretur (als ob es keinen Gott gäbe) – und das erkennen wir vor Gott selbst. »Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)!« (ebd.)
»Christus hilft nicht kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens.« (ebd.) Gott gewinnt »durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum«. (ebd.) – Bonhoeffer nennt das den Beginn der weltlichen Interpretation.
So weit zu Bonhoeffer – und heute?
Religionsloses Christentum – heute?!
Heute haben wir alles, was es seinerzeit gab, bunt gemischt und fein differenziert, ganz wie es beliebt. Es gibt weiter die Frommen, die an der Metaphysik festhalten und in Erlebnisparks die Arche nachbauen und sich einsetzen, doch bitte Darwin aus den Schulbüchern zu verdrängen.
Es gibt die reduktionistischen Liberalen, die entmythologisiert haben und nichts so wörtlich nehmen. Es gibt vieles und vielfältiges, vom geistgetriebenen Pfingstler bis zum über historische Aufführungspraxis orientierten Freund der lutherischen Messe. Es gibt die Jesus-Freaks, die christliche Drogenhilfe und die Heilsarmee, und dort werden wahrscheinlich die feinsinnigen Unterscheidungen Bonhoeffers als recht weltfremd und theoretisch empfunden.
Nicht allein sind die Bekenntnisvoraussetzungen sehr unterschiedlich, es geht vor allem um das, was man an Praxen lebt, an die Rolle, die Gott, die Kirche, die Gemeinde, die Religion im je eigenen Alltag hat.
Es gibt aber auch die – und das sind mehr als manche meinen –, die feststellen, dass sie vom Bekenntnis der Kirche immer mehr zu einer Beziehung zu Gott gelangen. Dass sie weniger um die Details einer Tauftheologie ringen als darum, wie wir unsere Gesellschaft gestalten sollten, wenn wir nicht Gott vor den Kopf stoßen möchten. In den us-amerikanischen »links-evangelikalen« Kreisen um Sojourners und Jim Wallis hat sich der Ausdruck der red letter Christians gebildet. Gemeint ist, dass Menschen beginnen, die Aussprüche Jesu (die in einigen Bibelausgaben rot gedruckt sind) ernst zu nehmen. Und entsprechend zu leben. Der Ausdruck stammt übrigens von einem säkularisierten jüdischen Radio-Moderator, so Wallis.
In einem Hauskreis sagte eine liebe Nachfolge-Kollegin: »Nur der ist zur Gemeinschaft fähig, der es allein (mit Gott) aushält.« – Und sie beschrieb, wie sie sich auf die Zeiten der Einsamkeit, bzw. der Zeiten mit Gott, freue.
Man muss es nicht so theoretisch denken, wie es Bonhoeffer tut. Wenn man es aber tut, dann weil es Not tut! Wozu ist eine wissenschaftliche Theologie denn da, wenn nicht, um die Fragen, die sich dem Denken von Christen über ihren Auftrag stellen, zu beantworten?
»Die Kirche muss aus ihrer Stagnation heraus« (WuE # 186, 03.08.1944, also keine 14 Tage nach dem misslungenen Anschlag vom 20. Juli). – Im nächsten Brief (# 187, 03.08.1944 von E. Bethge datiert) schreibt Bonhoeffer: »Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern dienend…«
Das ist, wenn es umgesetzt wird, ein sehr weitreichendes Programm. Es ist aber keineswegs das Ende des christlichen Abendlands, vielmehr kann es den Anfang einer neuen Redlichkeit in unserem Glauben und Leben markieren. – Diese Seiten www.nachfolge-postmodern.de gibt es, weil es in vielen Kirchen und Gemeinden Menschen gibt, die sich nach dieser Redlichkeit sehnen. Die nicht länger zur Innerlichkeit oder zu einer völlig überholten Metaphysik gedrängt werden möchten. Die Christusgliedschaft als mündige Menschen leben möchten. Mit allen Ratlosigkeiten und aller Schuld.
Die Ethik wird zu einem großen Thema, und während Bonhoeffer sein Nachdenken über das »religionslose Christentum« als eine »kleine Arbeit« bezeichnet, möchte er bald nach Kriegsende seine Ethik als »das großes Werk« fortsetzen bzw. vollenden. Denn es bleibt so viel zu tun. – »Wohlan, es gilt unseren Garten zu bebauen.« (Voltaire, Candid, letzter Satz) Bonhoffer kam nicht mehr dazu. Die Arbeit ist bis heute unerledigt.
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