Dass wir unser Auto nicht verstehen, daran haben wir uns gewöhnt. Dass es mit den Details einzelner Betriebssystemkomponenten am PC ähnlich ist, nehmen wir hin. — Dass komplexe Rechtsgebiete Fachleute erfordern, daran haben wir uns gewöhnt. Auch in der Medizin akzeptieren wir, dass Fachärztinnen eben ihr Gebiet (hoffentlich) beherrschen, wir aber nicht. — In der Theologie aber akzeptieren wir nicht, dass es Fachleute braucht bzw. dass wir sie brauchen.
Wozu denn? Ist Gott nicht derselbe gestern, heute und in Ewigkeit? Was braucht es da Ausleger, die ja bekanntlich schon zu den Zeiten des Neuen Testaments (als »Schriftgelehrte und Pharisäer«) einen ausgesprochen schlechten Ruf genossen?
Viele fromme Christenmenschen und einige Gemeinden haben da eher Bedenken gegen eine (möglicherweise liberale) Universitätstheologie… Gefährdet die nicht den Glauben? Ja, diese Gefahr besteht. Aber der Schaden, den ein nicht reflektierter Glaube haben kann, wird hier aus dem Kalkül herausgelassen. Eine Form, Glauben zu denken, haben wir stets, auch und gerade dann, wenn wir uns das nicht bewusst machen. — Wenn wir es uns aber bewusst machen, dann könnte alles ja auch anders sein. Und das empfinden wir als gefährlich.
Bei unserer Medizin, Informatik und selbst in der Fahrzeugtechnik sehen wir Fortschritte; gibt es die in der Theologie auch? Nicht erkennbar, denn allein der Gegenstandsbereich (dem Denken Rechenschaft zu geben vom Glauben, seinen Grundlagen und den Methoden der Praxis) der Theologie interessiert die Mehrheit der Menschen nicht, weil Glaube nicht ihr Thema ist.
Aber auch bei denen, die sich als Nachfolgerinnen und Nachfolger Christi verstehen, ist das Interesse an Theologie allenfalls zu fünfhundert Jahren Reformation auf Luther gerichtet oder zum Bonhoeffer-Todestag auf einen entsprechenden Film im Fernsehen. Die Auflagen theologischer Bücher sind gering, und dies um so mehr, je fachlicher sie ausgerichtet sind.
Das liegt nicht daran, dass die Bücher besser oder schlechter wären als andere Fachbücher oder Fachaufsätze aus anderen Wissenschaften, sondern daran, dass andere Themen deutlich mehr Interesse in der Öffentlichkeit erfahren — selbst dann, wenn dieses Interesse negativer Art ist. »Gender Studies« reichen manchen zumindest als Aufreger. Eine detaillierte Untersuchung zum Gebrauch des »Nicht« im hebräischen Prophetenwort (»Nicht sollst du… tun, auf dass du lange lebest…«) findet selbst bei Pastoren kaum Aufnahme und in der Gemeindepraxis keine Anwendung.
Ich behaupte, dass bisher etwas skizziert ist, was an (a) der Gemeinde und (b) der theologischen Wissenschaft selbst liegt. — Und diese Ignoranz auf beiden Seiten empfinde ich als fatal und schädlich — für alle.
Mit den zehn Geboten oder Luthers kleinem Katechismus kommt man eben nur ein Stück weit. Wer Texte verstehen möchte, muss sich in den Sprachen, in denen sie verfasst wurden, eben ebenso auskennen wie in der Um- und Lebenswelt der Verfassenden. Dass es da Spezialisten gibt, die sehr weit über alles hinausgehen, was heute angewendet werden könnte, das ist in allen Wissenschaften so, und es ist gut, ja: Es ist ein Kennzeichen von Wissenschaft. Wer sich mit computergestützter Textsemantik zum Vorkommen von Kausativbildungen befasst, ist zwar Alttestamentler, vielleicht auch im Bereich »Digital Humanities«, aber eben nicht jemand, der der Gemeinde sagte: »Tu dies!« oder »unterlasse jenes!«
Die Unwilligkeit vieler heutiger frommer Menschen, sich überhaupt mit Theologie zu befassen, bzw. der wissenschaftlichen Betätigung etwas zuzutrauen, was sie bereichern kann, ist die andere Seite der Medaille: Wie in anderen Wissenschaften entwickeln sich die Fragen und die Methoden weiter. Wer also meint, sich nicht mit dem befassen zu müssen, was bereits gedacht ist, der droht, die selben Fehler wieder zu machen. Mit den Folgen, dass nach dem 11. September zu »Kreuzzügen« aufgerufen wurde. Oder mit einer Hermeneutik, die »die Texte einfach so nimmt«, aber nicht erklären kann, warum das eine Gebot gelten soll, das andere aber nicht.
Für diese Fragen (und viele andere) gibt es Lösungen, ja, sogar widerstreitende Lösungsangebote. Es ist wie in der Medizin oder Informatik oder Rechtswissenschaft. Aber: Es erfordert eine gewisse Einarbeitung, ist aber verständlich, wenn man sich denn bemüht. (Das wäre für sämtliche Wissenschaft ein Kriterium, das ist fordere: Transsubjektivität, dass also andere die Ergebnisse nachvollziehen können müssen. — Alles, was man klar denken kann, kann man klar sagen. — Und: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. [nach L. Wittgenstein, TLPh])
Die Kirchen- und Dogmengeschichte hat mir bewusst gemacht, wie vielfältig die Deutbarkeit der christlichen Botschaft angelegt ist und was da alles gedacht wurde. — Das gilt insbesondere für die ersten paar Jahrhunderte, die so genannte alte Kirche, die wir eher als »alte Kirchen« bezeichnen sollten. Auch nach der Konstantinischen Wende.
So sehr ich die Amish schätze: Sie sind mir ein Beispiel für das Stehenbleiben einer Gruppe an einer Kulturstufe. Das mag für manche passen. Und auch heute empfehle ich nicht jedem aus dem Jugendhauskreis Peter Stuhlmachers Biblische Hermeneutik zur Lektüre. Der Anlauf, den die jungen Leute da bräuchten, um das zu verstehen, zu würdigen, wäre vermutlich zu lang. Aber: Ich bin froh, dass es das gibt! Und ich kann es immerhin in Kernthesen zusammenfassen, und so einbringen. Und das empfinde ich als nützlich und kostbar. Und daher meine ich, dass wir uns in allen Wissenschaften eine gewisse praxisferne Grundlagenforschung leisten müssen. Dass es Leute braucht, die das dort, wo es passt, als Mosaiksteinchen in ihr eigenes Denken einbauen, auch in ihr Denken vom Glauben.
Kaum jemand fährt einen Oldtimer, kaum jemand arbeitet mit Windows 3.11 oder MacOS 8.6. Kaum jemand besteht bei einer Blinddarm-Operation auf »historischen Instrumente«, selbst dann wenn man Reinhard Goebel heißt, nähme man vermutlich den technischen Fortschritt gerne mit. — Warum bloß tun viele Christen und Gemeinden so, als gäbe es in der Theologie keine entsprechenden Fortschritte, die den Menschen (und Gott) dienen?
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