( Ich schrei­be die­sen Text als Kir­chen­glied und gewe­se­ner »Gemein­de­lai­en­füh­rer« in der Ev.-meth. Kir­che – im Blick auf die, die Glau­ben leben möch­ten, statt ihn zu organisieren. )

Das Mit­glied

In mein’ Ver­ein bin ich hineingetreten,
weil mich ein alter Freund dar­um gebeten,
ich war allein.
Jetzt bin ich Mit­glied, Kame­rad, Kollege –
das klei­ne Band, das ich ins Knopf­loch lege,
ist der Verein.

 

Wir haben einen Vorstandspräsidenten
und einen Kas­sen­wart und Referenten
und obendrein
den mäch­ti­gen Krach der oppositionellen
Mino­ri­tät, doch die wird glatt zerschellen
in mein’ Verein.

 

Ich bin Ver­wal­tungs­bei­rat seit drei Wochen.
Ich will ja nicht auf mei­ne Wür­de pochen –
ich bild mir gar nichts ein …
Und doch ist das Gefühl so schön, zu wissen:
sie kön­nen mich ja gar nicht missen
in mein’ Verein.

 

Da drau­ßen bin ich nur ein armes Luder.
Hier bin ich ich – und Mann und Bundesbruder
in vol­len Reihn.
Hoch über uns, da schwe­ben die Statuten.
Die Abend­stun­den schwin­den wie Minuten
in mein’ Verein.

 

In mein’ Ver­ein werd ich erst rich­tig munter.
Auf die, wo nicht drin sind, seh ich hinunter –
was kann mit denen sein?
Stolz weht die Fah­ne, die wir mutig tragen.
Auf mich könn’ Sie ja ruhig »Och­se« sagen,
da werd ich mich bestimmt nicht erst verteidigen.
Doch wenn Sie mich als Mit­glied so beleidigen … !
Dann steigt mein deut­scher Gruppenstolz!
Hoch Stol­ze-Schrey! Frei­heit! Gut Holz!
Hier lebe ich.
Und will auch einst begra­ben sein
in mein’ Verein.

 

Theo­bald Tiger
Die Welt­büh­ne, 01.06.1926, Nr. 22, S. 865,
wie­der in: Mit 5 PS. (Kurt Tuchol­sky – da er 1935 starb, seit 2006 gemeinfrei)

Klas­sisch ver­ste­hen wir unter einer Frei­kir­che eine der nicht »Lan­des­kir­chen« in Deutsch­land. Vie­le die­ser Kir­chen sind Kör­per­schaf­ten öffent­li­chen Rechts, ande­re sind als Ver­ei­ne orga­ni­siert. Wesent­lich ist die­sen Kir­chen, dass sie ihre Ange­le­gen­hei­ten (ins­be­son­de­re Mit­glied­schaft, Bei­trä­ge usw.) selbst orga­ni­sie­ren, inso­fern ver­zich­ten die Kör­per­schaf­ten auf einen staat­li­chen Steu­er­ein­zug, obgleich sie dazu recht­lich im Stan­de wären.

In die­sem Sin­ne sind Frei­kir­chen sol­che Kir­chen, die weit­ge­hend frei vom Staat sind. Was aber »Frei­kir­che 2.0« meint, das ist, dass Kir­chen frei machen zur Nach­fol­ge. — Das erstre­ben ver­mut­lich alle Kir­chen. Klas­sisch ist das Ver­ständ­nis ja, dass Kir­che da ist, wo der Geist Got­tes weht, dass aber der Geist eben da sei, wo Kir­che ist.

Aus der Eigen­ge­setz­lich­keit der Orga­ni­sa­ti­on Kir­che folgt, dass Kir­chen, auch Frei­kir­chen, nicht zu frei machen dür­fen, denn wenn sie Men­schen nicht allein zur Nach­fol­ge befä­hig­ten, son­dern die allei­ni­ge Abhän­gig­keit von Chris­tus beför­der­ten, dann trä­te an die Stel­le der Kir­chen­glied­schaft die Chris­tus­glied­schaft. – Das ist aber kei­nes­wegs dasselbe.

Als Extrem mag ein Ein­sied­ler gel­ten. Jemand, der in sei­ner Ein­sie­de­lei (und zwar ohne Ver­bin­dung zu ande­ren, etwa wie die Säu­len­hei­li­gen) Nach­fol­ge lebt ohne eine Bezie­hung zu ande­ren, außer der, dass er für die ande­ren betet.

Das ist nur für eine klei­ne Anzahl von Chris­ten­men­schen die Art, wie sie ihren Glau­ben authen­tisch leben. Die meis­ten wün­schen und brau­chen Gemein­schaft. Gemein­schaft ist aber kei­nes­wegs Kir­che. Kir­che erfor­dert Ämter, Gebäu­de, Ent­schei­dungs­pro­zes­se, die jeweils unter­hal­ten bzw. ver­wal­tet wer­den müs­sen. Das ist nicht immer schlecht, aber es ist nur ein Modell, geist­li­che Gemein­schaft zu orga­ni­sie­ren. Ein auf­wen­di­ges, nebenbei.

Gemein­schaft in Haus­krei­sen und Grup­pen, die sich infor­mell fin­det, eine Zeit der Weg­ge­mein­schaft geist­lich gestal­tet, und dann die je Ein­zel­nen frei­setzt, ihren geist­li­chen Lebens­weg fort­zu­set­zen, das erscheint mir als ein Modell, das mehr zu unse­rer Situa­ti­on heu­te passt. Unter­schied­li­che Bezü­ge, die 90 % der Zeit, die wir nicht in Haus­kreis, Gemein­de usw. unter­wegs sind, son­dern schla­fen, arbei­ten, ein­kau­fen, im Sport­ver­ein oder anders­wo mit Men­schen unter­wegs sind, sind ja auch ein geist­li­ches Man­dat. Chris­ten­men­schen sind wir auch an der Super­markt­kas­se oder in der Fir­ma, in der Uni oder im Sport­ver­ein. Aber auch in der Gemein­de, wenn wir denn eine haben bzw. uns einer zuge­hö­rig fühlen.

Die­ses ad-hoc Modell von christ­li­cher Gemein­schaft führt wei­ter, wenn man es denn so weit denkt, was Bon­hoef­fer in eini­gen sei­ner Brie­fe aus der Haft mit dem Stich­wort »reli­gi­ons­lo­ses Chris­ten­tum« benann­te. Er fand, dass das die Kon­se­quenz dar­aus sei, dass die Men­schen in der Moder­ne mün­dig gewor­den sei­en, dass »Reli­gi­on« und »das Hei­li­ge« immer wei­ter aus dem All­tag ver­drängt wor­den wären. – Als Fol­ge sei Bult­manns Gedan­ke einer »Ent­my­tho­lo­gi­sie­rung« nicht hin­rei­chend, denn es han­de­le sich letzt­lich um eine Reduk­ti­on. Bon­hoef­fer aber woll­te von Chris­tus her denken.

Wie Pau­lus im Römer­brief (u.ö.) fest­stellt, ist alles, was neben Chris­tus tritt und ihm ähn­lich wich­tig geach­tet wird, ein neue Gesetz­lich­keit, die mit der Ein­zig­ar­tig­keit Chris­ti in Wider­spruch gerät. Das darf nicht sein. Es darf nicht ein­mal sein, dass das jüdi­sche Gesetz im Sin­ne der Heils­not­wen­dig­keit gelebt wird.

Wenn wir das kon­se­quent wei­ter den­ken, dann folgt, dass wir Chris­ten­men­schen befä­hi­gen soll­ten zur Nach­fol­ge, sie aber nicht an (eine) Kir­che bin­den soll­ten: Frei­kir­che 2.0 ist nicht allein die Frei­heit der Kir­che vom Staat. Es ist auch die Frei­heit der Chris­tus-Nach­fol­gen­den von einer Kir­che als »Heils­an­stalt«. Das ist eine Fol­ge des »Allein-durch-Chris­tus«, was ja auch bedeu­tet, nicht durch die bzw. eine Kirche.

Frei­heit von etwas (vom Staat, von der Kir­che) ist das eine, wich­ti­ger ist noch, dass es dar­um geht, frei zu wer­den _zu_ etwas: Frei zur Nach­fol­ge.

Das klingt nach kei­ner beson­ders neu­en Erkennt­nis, es ist aber gewal­tig, wenn wir es etwas wei­ter den­ken. Kir­chen brau­chen Abhän­gig­kei­ten. Wenn die Men­schen nicht sonn­tags zum Got­tes­dienst gin­gen, dann brauch­te es kei­ne Gebäu­de und kei­ne Pas­to­ren. Wenn ich nicht einem ande­ren, etwa dem Pas­to­ren, zubil­lig­te, mich in mei­ner Nach­fol­ge zu lei­ten, mich seel­sor­ger­lich zu beglei­ten und mir zu sagen, was ich tun soll­te und las­sen, dann käme ich viel­leicht anfangs nicht so schnell vor­an, aber ich wäre in einer Abhän­gig­keit weni­ger. Solus Chris­tus. Allein Chris­tus. – Das wäre mei­nes Erach­tens der Beginn einer Frei­kir­che 2.0, die auf Struk­tu­ren, Gebäu­de, Haupt­amt­li­che und Zustän­dig­kei­ten verzichtete.

Bei Tex­ten unse­res Neu­en Tes­ta­ments ist es mit der Über­set­zung des Begrif­fes ekkle­sia nicht ein­fach: Anfangs, bevor eine Gemein­de­struk­tur bestand, über­setzt man gemein­hin Gemein­schaft, spä­ter dann Gemein­de und schließ­lich (mit Fort­schrei­ten der Ent­wick­lung kirch­li­cher Struk­tu­ren) mit Kir­che.

Wenn wir Gemein­schaft wol­len, so kön­nen wir sie heu­te (dank der Mög­lich­kei­ten der »Ver­net­zung« via Inter­net) deut­lich ein­fa­cher orga­ni­sie­ren als jemals zuvor. Face­book (wo ich nicht bin) warb vor einem Jahr mit dem Slo­gan: »Es gibt für alles eine Grup­pe…« – Kurz gesagt: Gemein­schaft ist mach­bar, auch ohne Kirche.

In die­sem Sin­ne sehe ich Frei­kir­che 2.0 als ein Modell zur geleb­ten Nach­fol­ge auch für sol­che Men­schen, die ein­fach nicht für Ver­eins­meie­rei und Orga­ni­sa­ti­on tau­gen. Die aber den­noch nicht auf geist­li­che Gemein­schaft ver­zich­ten möchten.

Der Leib Chris­ti ist und bleibt zuerst und zuvör­derst eine Kör­per­schaft öster­li­chen Rechts, nur für eini­ge folgt hier­aus eine Kör­per­schaft öffent­li­chen Rechts.