Für viele hat Christsein etwas mit dem richtigen Handeln zu tun. Dass man also verantwortlich und so lebt, dass es Gott und den anderen dient. Eben das bedeutet, dass man ethisch gut handelt.
Für unterschiedliche Bereiche unseres Lebens, die bisweilen als Mandate bezeichnet werden, für das Leben in der Familie, im Beruf, in der Politik (ob nun als Wählerin, in einer Bürgerinitiative oder als Politikerin) usw. gibt es jeweils empfohlene Handlungsweisen.
Handlung und Widerfahrnis
Ich schreibe hier vom Handeln, weil ich nur denjenigen Bereich menschlichen Verhaltens meine, den wir bewusst steuern können. Das so genannte unbewusste Verhalten, das manche Behavioristen sehr betonen, lasse ich absichtlich weg, weil es eben keine Handlungsoptionen bietet. Wenn ich stolpere etwa, dann ist das ein Widerfahrnis, das ich nicht lassen kann. Ob ich aber eine Partei wähle oder ein Steak kaufe, wie ich Kinder erziehe und wie ich meine Eltern unterstütze, das sind Bereiche, in denen es weit mehr als nur eine Option für mich gibt.
Was aber unter welchen Umständen richtig ist, das erscheint mir nicht so einfach, wie es manche darstellen. – Nehmen wir ein einfaches Beispiel: »Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können« (ein Titel einer kleinen Schrift Martin Luthers von 1526). Immer wieder wurde diese Frage – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen – in der Christenheit diskutiert. Nachdem es am Anfang eine völlige Ablehnung des Soldatenberufs gab, eine Sicht als unvereinbar mit dem Christsein, änderte sich das nach der konstantinischen Wende.
Angesichts der Kreuzzüge wurden die Argumente wieder neu gemischt. Wenn ich an Zeugen Jehovas und andere Gruppen denke, die Kriegsdienst für mit dem Christsein unvereinbar halten, wird klar: Das ist vielfach eine Frage, wie welche (guten) Argumente gewichtet werden.
Christliche Individualethik?!
Weil aber gerade in sozialethischen Fragen, also solchen, die nicht bloß mich allein betreffen, sondern eben eine größere Gruppe, vielleicht bis zu allen Menschen und oder auch noch andere Teile der Schöpfung, es zunehmend schwierig und komplex wird, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, nehmen aktuelle fromme ethische Konzepte vielfach vor allem die Einzelnen in den Blick: Wie Christen politisch handeln sollen, das ist schwierig. Aber in ihrem persönlichen Bereich, da sollen sie doch einfach explizit christlich leben.
Insofern verstehe ich die Fragen in Zusammenhang mit menschlicher Sexualität als eine Art Komplexitäts-Vermeidungs-Strategie. Leider misslingt das, denn dieser Bereich ist keinesfalls weniger komplex. Vor allem sind die frommen Rezepte oft – das hat mit dem letzten Artikel zu tun, den ich hier veröffentlichte, – leider keine wissenschaftlich ethischen Konzepte, sondern bestenfalls so etwas wie »best practices«. Viele Gemeinden und Pastoren vermitteln, was ihnen selbst gut erscheint: Sexualität gehört in die Ehe, und das meint die feste und stabile Gemeinschaft von einem Mann und einer Frau.
Darin sind zahlreiche Annahmen enthalten, etwa die Übereinstimmung der geschlechtlichen Identität mit äußeren Geschlechtsmerkmalen, die Annahme eines entweder Mannes oder einer Frau. Dass dies möglicherweise aber weniger disjunkte Mengen sind, sondern eher Sprechweisen über etwas, die ja mehrheitlich auch passen, insofern als Sprechweisen nicht falsch sind: Sie haben einen über 50 % Nutzen! Das ist nicht nichts. Allein: Sie verletzen besonders die, bei denen diese Sprechweisen nicht passen, denn sie suggerieren, dass der Fehler bei denen liege, die nicht in die entsprechenden Schubladen passen.
Wohl gemerkt: Ich spreche hier bisher nicht davon, woher diese Modelle kommen, dass möglicherweise auch Paulus ähnlich argumentiert, und dass das, was in der Bibel steht, doch für Christenmenschen bis heute bleibende Wahrheit (in welchem Sinne auch immer) bleiben müsse. – Ich stelle erstmal nur fest, dass unser Denken über die Bedeutung der Begriffe »Mann« und »Frau« mehrheitlich so ausgeprägt ist, dass diese bipolar und disjunkt gedacht werden. – Und: Das passt mehrheitlich, aber eben keinesfalls vollumfänglich.
Bedeutungsrealisten, also diejenigen im Nominalismus-Realismus-Streit, die annehmen, dass es so etwas wie eine »Bedeutung« des Begriffes »Mann« bzw. »Frau« (im Ideenhimmel oder wo auch immer) gäbe, fürchten, dass alles sinnvolle Sprechen den Abfluss heruntergespült werde, wenn man nun die Bedeutung offener fasst. – Ich selbst nehme keine Intention der Begriffe an, also nicht eine feste Bedeutung, sondern: Die Bedeutung des Begriffes »Frau«, das sind genau all die einzelnen Frauen, auf die der Begriff angewendet werden kann. – Also eine extensionale Semantik im Sinne Nelson Goodmans. Das klingt komplizierter als es gemeint ist: Wir sprechen von »der Frau da drüben am Nachbartisch im Café« und wenn es passt, dann weiß der Gesprächspartner, welche der beiden Personen nebenan ich bezeichne, denn die andere Person ist eben keine Frau, sondern z.B. ein Kind oder ein Mann. Er genügt völlig, dass der Dialog funktioniert. Mehr »Bedeutung« braucht es nicht.
Diese Grundlagen sind mir wichtig und auch erforderlich für alles weitere ethische Denken, denn bei den Begriffen und ihren »Bedeutungen« fängt es an, dass große Unterschiede zwischen dem Denken-Über festzustellen sind. Wenn jemand also – selbst klar heterosexuell und glücklich in seiner Ehe – das eine oder andere an Ratschlägen gibt, dann droht, dass Gott so ähnlich wie er wird, denn die eigenen Konzepte und Vorstellungen werden oft und leicht als biblisch gedacht und verkauft. – Damit aber werden andere Denk- und Lebensweisen (implizit oder explizit) als nicht-biblisch (= abzulehnen) dargestellt.
Für einige passt das, denn die denken und empfinden ebenso wie der Prediger. Und ihnen hilft die klare Richtung, um ihr eigenes Leben daran auszurichten. Sie nehmen sich die Predigt zu Herzen und kommen, wenn es gut geht, zu einer erfüllten und segensreichen Partnerschaft. Wenn das Konzept aber nicht passt, dann wird alles, was daraus gefolgert werden kann, schief und gefährlich. Es folgt alles von Depression bis Suizidversuch. Die Entkehrung (also das Sich-Abwenden-vom Glauben) ist noch eine der harmloseren Folgen, wenngleich ähnlich fatal. Geistlicher Totalschaden. – Nicht alles, was wir tun und denken, passt für andere.
Vielfalt
Positiv gesagt: Nicht alles, was wir tun und denken, muss für andere passen. Das ist eine Chance und keine Gefahr, wenn wir es so begreifen wollen. – Es erlaubt dem Prediger, sein »Ich« zu gebrauchen, ja, auch persönlich zu werden, ohne dass andere vereinnahmt oder ausgegrenzt werden. Allein: Das muss man wollen und sich bewusst machen, ohne zu verallgemeinern und übergriffig zu sprechen.
Wohl gemerkt: Mir geht es hier weniger um »Identität« – dazu habe ich andernorts etwas geschrieben. Es geht mir um das Handwerkszeug unserer Entscheidungen. Die Konzeption, dass es so etwas gäbe, wie einen christlichen Lebensstil, der für alle passen müsse, das setzt einen Begriffsrealismus voraus und eine Konzeption, die Freudianer als Über-Ich bezeichneten. Die Hoffnung ist, dass in den Gemeinden usw. die Menschen diese Vorstellungen eines christlichen Lebensstils als Ich-Ideal annehmen und diesem nachstreben. So hoffen zumindest traditionellere Prediger vielfach.
Was folgt hieraus praktisch und theoretisch?
Ich schätze aus der Vielzahl ethischer, moralischer und meta-ethischer Werkzeuge je unterschiedliche für unterschiedliche Zwecke. Daher ist es m.E. nicht einfach, sich für eine Konzeption zu entscheiden. Ob ich in einem bestimmten Handlungsfeld eher einer präferenz-utilitaristischen Ethik zuneige, einer eudämonistischen, einer konsequentionalistischen oder einer deontischen (cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Ethik), das hängt jeweils vom Dialog ab. Unterschiedliche Situationen bestehen etwa beim Anhäufen hoher Staatsschulden oder anderer »Obligationen« für zukünftige Generationen einerseits und der Entscheidung, ob Fleischverzicht die bessere Option ist für meine Ernährung.
Daher folgt für mich, dass ein mandatenethisches Vorgehen immerhin die Vorzüge bietet, sich einerseits nicht völlig zu verzetteln und andererseits je nach dem Handlungs- und Entscheidungszusammenhang in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche ethische Werkzeuge benutzen zu können.
Mir ist hierbei wichtig, dass ich das Sein nicht als die Grundlage für das Sollen ansehe. Vielmehr das, was im jeweiligen Dialog nicht als Sein, aber doch als nicht in Frage stehend angesehen wird. Das kann also einen anderen Satz an Annahmen enthalten, wenn ich in einer Kirche oder Gemeinde mit anderen entscheide, wir aber alle auf der Grundlage von »Verfassung, Lehre, Ordnung der Evangelisch-methodistischen Kirche in Deutschland« in der aktuellen Fassung entscheiden, hier gibt es mehr, das wir voraussetzen können. Wenn wir in der Nachbarschaftsinitiative entscheiden, und in meiner Nachbarschaft leben Atheisten, Muslim, Christen und viele andere mehr, dann steht uns vermutlich ein geringerer Satz an Annahmen gemeinsam zur Verfügung.
Ja, das sind Konzepte, die aus der Diskursethik (Habermas, Karl-Otto Apel cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Diskursethik) herkommen, aber formal mehr von der Erlanger Dialogischen Logik (cf. https://de.wikipedia.org/wiki/Dialogische_Logik) geprägt sind. Zutreffend ist, dass all diese Arten des Nachdenkens den homo disputans, den Menschen voraussetzen, der so etwas im Gespräch klärt. In der vorfindlichen Welt ist oft nicht zutreffend. Wir haben sehr unterschiedliche Macht- und Einflusssphären, mit denen ein normativer Standpunkt schwierig ist (vgl. Julian Nida-Rümelin).
Praktisch stellen sich viele Fragen zu einer Entscheidung, während wir nicht einmal die Werkzeuge zur Verfügung haben. Teils sind wir zu jung, teils zu triebgesteuert, — die Alternative zu verantworteten Entscheidungen aber besteht nicht im Übernehmen der Entscheidungen, die andere einmal getroffen haben.
- Deskriptive Normen bedeuten manchen mehr als anderen: Wenn acht Millionen Menschen die Corona-Warn-App heruntergeladen haben, mag das für einige ein Grund sein, zu sagen: Die kann ja nicht so schlecht sein, wenn schon so viele die App auf ihren Smartphones installiert haben. – Selbst wenn es 81 Millionen wären: Mir wäre das kein (mich überzeugendes) Argument.
- Injunktiven Normen (im Gebrauch Herwigs – nach dem indogermanischen Grund-Modus vgl. Injunktiv) hingegen bin ich sehr viel eher zugänglich (Gemeinwohl, Abwägung des Nutzens und Schadens bezogen auf andere und mich…) vgl. Ralph Hertwig, der in seinem Konzept, das politisch-gesellschaftliche Entscheiden nicht durch Nudges (Anstupser, etwa finanzielle Anreize usw.), sondern durch Boosting (hier geht es nicht um äußere Anreize, sondern eine gestiegen Selbstmotivation) befördern möchte.
Nicht immer und nicht unter allen Umständen müssen wir Entscheidungen so absichern und so transsubjektiv begründen können (ich schreibe bewusst nicht intersubjektiv, weil ich auf den jeweiligen Diskurs/Dialog abstelle, ohne eine »Welt an sich« voraussetzen zu wollen).
Sprachspiele…
Die Entmythologisierung des biblisch orientierten Glaubens sei nach Rudolf Bultmann fast Allgemeingut geworden. Führe man die Entmythologisierung allerdings konsequent durch, dann bleibe biblisch nicht viel übrig. Berger macht einen Vorschlag, wie man sich eine Wirklichkeit vorstellen kann, die durch mehr als nur kausal orientierte Rationalität aufgebaut wird. Im Haus der einen Wirklichkeit könne man sich vier, untereinander verbundene Räume vorstellen: einen der Rationalität, einen der Emotionalität, einen der Kunst und Musik und schließlich einen der Religion. In jedem Raum gelten andere Spielregeln, alle sind aber gleich wirklich. Und alle vier Bereiche lassen sich rational beschreiben, wenngleich auch nicht auf einen rationalen Nenner bringen. Wunder stören demnach nicht unbedingt den Bereich des rational-logischen Denkens, wenn nur zugestanden wird, dass es Bereiche menschlicher Erfahrung gibt, die in ihrem Wesen nicht »vernünftig« sind. (Wiki-Artikel Klaus Berger Hervorhebungen durch mich, F.W.)
Das, was Klaus Berger hier beschrieben hat, ist ein Modell unterschiedlicher Sprachspiele (unterschiedlicher Räume), und in eine ähnliche Richtung denkt auch der oben genannte Nelson Goodman in seinem Buch »Sprachen der Kunst«. Wir sind nicht nur und nicht allein rational. — Vor allem haben wir die Zeit, alle ethischen Entscheidungen gemäß aller Regeln rationaler Entscheidungskunst durchzuspielen. Das geht uns selbst so im Privaten. Aber es gilt fast noch mehr für den Bereich der politischen Ethik. Wir sind eben nicht nur disputierende Menschen (homini disputendi s.o.) — der Lebensstil des Sokrates setzt voraus, dass andere viele sonstige Arbeiten erledigen, so dass er Gespräche führen kann.
Wenn wir von der Grundannahme des Dialogs, dem Dienst am anderen, dem Gott-eine-Freude-Machen ausgehen, dabei informiert und nicht allein selbstbezogen entscheiden, ist schon einiges gewonnen. Im Zweifel sollten wir bereit sein, unsere Entscheidungen zu begründen, und dann helfen all die genannten ethischen Konzepte. Es ist wie im Straßenverkehr: Wir handeln meist unbewusst, hoffentlich richtig. Aber niemand denkt (nach der Fahrschule) drüber nach, wann und wie das Kupplungspedal losgelassen wird. Wir handeln. — Gut ist es aber, dieses Handeln (und auch den Gebrauch der Kupplung) auf Nachfrage erläutern zu können.
Wer hier eine praktische christliche Ethik in knapp 2000 Wörtern erwartet, den muss ich enttäuschen. Es geht mir hier (anderes kann noch kommen) weniger darum, was zu tun ist. Abgesehen davon, dass das unterschiedlich ist für verschiedene Menschen. Es geht mir um die Vermeidung der groben Fehler, die oft aus dem Unterschied zwischen Gut-Gemeint und Gut-Gemacht sich ergeben. Wie oben bei der traditionellen Predigt über die (traditionelle) Ehe. Ich gönne dem Pastor und allen, die in genau solchen Beziehungen leben, dass sie das genießen und sich darin glücklich und beglückend für die/den Partner/in empfinden. Die Herausforderung besteht bei den paar Prozent, bei denen das Modell nicht passt.
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