In Apostelgeschichte 5 findet sich der Bericht von Gamaliel, einem angesehenen Gesetzeslehrer aus dem hohen Rat.
»Da stand aber im Hohen Rat ein Pharisäer auf mit Namen Gamaliel, ein Lehrer des Gesetzes, vom ganzen Volk in Ehren gehalten, und ließ die Männer für kurze Zeit hinausführen. 35 Und er sprach zu ihnen: Ihr Männer von Israel, seht genau zu, was ihr mit diesen Menschen tun wollt. 36 Denn vor einiger Zeit stand Theudas auf und gab vor, er wäre etwas, und ihm hing eine Anzahl Männer an, etwa vierhundert. Der wurde erschlagen und alle, die ihm folgten, wurden zerstreut und zunichte. 37 Danach stand Judas der Galiläer auf in den Tagen der Volkszählung und brachte eine Menge Volk hinter sich zum Aufruhr; und der ist auch umgekommen und alle, die ihm folgten, sind zerstreut. 38 Und nun sage ich euch: Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist dies Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird’s untergehen; 39 ist’s aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen.«
Wie ist das nun mit und in unseren Gemeinden, um die wir uns sorgen? Bei denen das Wachstum zumindest nicht so eintritt, wie wir dies erhoffen. Bei denen es möglicherweise Schrumpfen gibt?
Sind das Hinweise, dass wir auf dem falschen Weg sind mit unserer Gemeindeentwicklung? Könnte es sein, dass Gott nicht möchte, dass es unseren Gemeinden gut geht?
Klar, damals riet Gamaliel, zu sehen, wie sich das entwickelt, was da angefangen hat mit den frühen Christen. Wenn es unter Gottes Segen steht, dann wäre eine Christenverfolgung sinnlos und ein Tun wider Gott und dessen Plan. – So etwas wäre zum Scheitern verurteilt.
Leider waren in der Geschichte nicht alle mächtigen Menschen so weise, dass sie (a) mit Gott gerechnet hätten und (b) beobachtet hätten, wo und wie Gott wirkt – etwa auch bei denen, gegen die man selbst meint, die richtige Position zu vertreten.
Wie ist bei Gemeinde und Kirche die Wirkung von Menschen relativ zu der Wirkung Gottes zu beschreiben?
Ohne Gott können wir nichts tun; soviel ist klar. Gott könnte ohne das Zutun von Menschen viel bewirken. Aber er möchte auch die Mitarbeit von »seinen« Leuten. Insofern gilt möglicherweise eine gewisse Selbstbeschränkung Gottes auf das, was Menschen tun – und es kann nur gelingen, wenn es in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes ist.
Anders gesagt: Es gibt für Gemeinden (oder Kirchen) viele Gründe, warum es nicht oder schlecht geht. Aber es gibt eigentlich bloß einen, der es erlaubt, dass sie gedeihen und zum Segen werden. – Wenn Kirchen oder Gemeinden ein Verein werden, also ein bloß menschliches Projekt, dann können Gemeinden oder Kirchen als solche erfolgreich sein. Wie eine gute Volkshochschule auch. Gute Nachwuchsarbeit, gutes Angebot. Bloß eben keine Gemeinschaft der Heiligen.
Wenn es aber um Gottesdienst geht, um den Dienst Gottes an den Menschen und um den Dienst der Menschen zur Ehre Gottes, dann bedarf es menschlicher Arbeit und Gottes Segens. Idealerweise in Übereinstimmung – denn beide Kräfte können auch gegensätzlich wirken: Kräfte sind ja auch in der Physik Vektoren, also Größen mit einer Richtung, in der gewirkt wird.
Die Entscheidungswege und ‑strukturen in Kirchen sind oft eher auf das Zuwarten angelegt als auf agile Entwicklung von Kirche. Das ist in Zeiten wachsender Volatilität der Christenmenschen mit dem hohen Risiko behaftet, dass die Synoden, Konferenzen und wie die kirchenleitenden Gremien jeweils heißen, die Menschen verpassen, bei denen eben weniger feststeht als früher: Die sind dann jeweils anderswo, wo es gefühlt mehr ihnen entspricht, was sie erleben und wo sie eher meinen, dass sie sich einbringen können.
Andererseits ist das Modell der Langsamkeit ja eines, das lange in den Kirchen erfolgreich war. Es ist also nicht prinzipiell falsch oder unangebracht: Lediglich passt es weniger in die Welt der Menschen, die andere Formen – etwa via Bibel.tv und YouTube – kennen: Sie sind eher an aktuellen Formen und Moden ausgerichtet als an einer kleineren Liturgiereform alle dreißig oder vierzig Jahre.
Die Kinder- und Jugendarbeit muss inzwischen »orange« sein, also auch mit den Familien zu tun haben: Ganzheitlich. So weit, so gut. Außerdem schreitet die Individualisierung fort: Es reicht eben nicht, dass wir Christenmenschen sind. Wir wünschen uns eine bestimmte Weise, wie gepredigt wird. Eine bestimmte Musik. Eher charismatisch mit Händen-oben oder sozial ausgerichtet mit Randgruppen, modern mit Video-Clips oder barrierefrei mit Simultan-Übersetzung und ggf. Liedtexten in Braille-Zeile. Außerdem brauchen manche Parkplätze an der Kirche, andere öffentlichen Nahverkehr möglichst nahe dran. Kurz: Es passt einfach zunehmend schon äußerlich nicht alles für alle. Binnendifferenzierung (»Hauskreis A ist eher traditionell…«) hilft – aber eben nur ein Stück weit.
Besteht aber nicht ein hohes Risiko, dass wir uns im Klein-Klein der Äußerlichkeiten und Moden völlig verzetteln? Dass wir letztlich einem Gottesdienst- oder Kirchenideal nachjagen, das es nicht geben kann, denn wir leben hier immer noch in der Welt und nicht im Himmel?
Wenn das so wäre, wäre möglicherweise dran, dass wir eher umgekehrt fragen. Nicht mehr die ideale Gemeinde in perfekter Selbstoptimierung suchen, sondern die Gemeinschaft mit anderen, die vielleicht unterschiedlich ticken und mit denen ad hoc Gemeinschaft der Heiligen bilden? Das kann in einer Gemeinde geschehen, oft aber nicht so, dass alle Glieder dieser Gemeinde oder Kirche wären. Das kann in einem Hauskreis geschehen. Bei einem Projekt. Hauptsache bleibt, dass es allen um Jüngerschaft geht, die eben aus das Miteinander bestimmt. Wenn das so ist, ist vieles möglich.
Wo aber Gott diese Gemeinschaft wirkt, da geht es weniger um Gemeindeaufbau, sondern mehr um den Bau des Reiches Gottes. Entweder bei uns, natürlich auch gerne in der einen oder anderen Gemeinde. Aber es geht nicht mehr um einen Wettbewerb, sondern um Gott. – Möglicherweise geht es gar um den Bau des Reiches Gottes bei den Menschen um uns, die bisher nicht viel mit Gott zu tun bekommen haben. Sehet wie fein und wie lieblich ist’s, wenn Geschwister einträchtig beieinander sind.
Gemeindeentwicklung ist nicht Wachstum des Reiches Gottes
Für uns, die wir in Gemeinden leben und eben auch denken, ist die Unterscheidung nicht einfach. Möglicherweise muss es sogar weniger Kirche geben, damit das Reich Gottes vorankommt.
Für mich ist die Frage, ob eine Rekonstruktion von Christentum als Gemeinschaft der Heiligen gar »religionslos« denkbar ist. Da bin ich, nach jahrelanger Sympathie mit Bonhoeffers Gedanken aus der Haft, zunehmend skeptisch. Wo denn sollen junge Leute den Glauben kennenlernen, wenn nicht in Gemeinden? Klar, es geht auch anders, aber dort ist m.E. ein guter Ort und der, an dem die meisten erreicht werden.
Auch für die Sakramentsverwaltung und Predigt ist bisher die Gemeinde bisher die Normalform. Sicher ist das auch anders denkbar und in der Geschichte auch schon anders gehandhabt worden. – Aber schütten wir dann nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn wir um des Prinzips willen »religionslos« erstreben? Für mich ist schon die Frage, wo Gottes Reich gebaut wird. Das ist keineswegs bei allem der Fall, was Gemeindeaufbau so ausmacht. Andererseits ist trotz der Verschiedenheit beider Ziele das eine und das andere manchmal miteinander unterwegs. Zumindest ist das meine bisherige Einsicht, weshalb ich in Gemeinde mich einbringe. Jedoch fokussiere ich auf den Aufbau des Reiches Gottes.
Wenn es in Gemeinde um das Fragen nach dem Willen Gottes geht und auch ums Tun desselben, dann besteht eine gute Chance, dass sich hierdurch, durch Gottes Segen, Gemeinden gut entwickeln.
Das wäre dann ein Beleg, dass Gamaliel, der Lehrer des Paulus als der noch Saulus war, recht hatte.
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