Im Rückblick ist »die Geschichte des Urchristentums« eine unzulässige Engführung.
Fr. Vouga lehrte und sprach bereits jeweils von der Geschichte »der Urchristentümer«. In seiner Theologiegeschichte des Urchristentums spricht Klaus Berger von den unterschiedlichen Zentren und Kreisen (Zwölferkreis, Siebenerkreis, johannäischer Kreis usw.), um so Linien auszuziehen, an denen entlang sich das frühe Christentum bewegte.
In Gemeinden tun wir oft so, als wäre die Darstellung der Apostelgeschichte maßgeblich in allen Zweifelsfällen – wie einst der Duden. In den guten, alten Zeiten. Inzwischen ist der Duden ähnlich von Konkurrenz bedroht wie es eben auch die jeweiligen einzelnen Darstellungen sind. Nur weil diese 27 Bücher später unser »Neues Testament« geworden sind, sind sie sicher maßgeblich, aber keinesfalls ohne eine verantwortliche Hermeneutik. Wir können sie kaum (wenn das jemals möglich gewesen ist… – ich wage das zu bezweifeln) als 1:1 Abbildung einer angenommenen unchristlichen Wirklichkeit nehmen.
Diese Texte stehen mit anderen Texten in einem intertextuellen Dialog, sie greifen etwa Motive der jüdischen Überlieferung in Gesetz, Propheten und Schriften auf, deuten diese aber um. – Wenn das nicht bereits ein spielerisch-postmoderner Umgang ist, so ist es doch zumindest wider die Intentio Textis und auch gegen die mutmaßliche Deutung der Texte durch die Verfassenden gerichtet.
Gerade das Musterbeispiel für den Umgang mit älteren und überlieferten Texten, Apostelgeschichte 8,26ff: Die Begegnung zwischen dem äthiopischen Finanzminister (und dessen Unverständnis von Texten aus Deuterojesaja) und Philippus, einem der sieben Diakone, der das Gottesknechtslied auf Jesus hin deutet, ist hier typisch.
Man fand Motive wieder – etwa in den Vorhersagen, die sich auf den Messias bezogen –, dass sich gut auf Jesus beziehen ließ. Etwa Micha 5,1ff: Aus Bethlehem wird der Messias kommen. Entsprechend passte der Bericht von der Geburt in Matthäus und Lukas.
Ebenso aber kamen einige Bereiche des frühen Christentums, etwa in Nordafrika, in Persien, in Indien usw., leider keinen Niederschlag. Entsprechend ist unsere Rezeption des Christentums in diesen Regionen ein einziges schwarzes Loch. Wir wissen nichts – und schließen daraus, dass dies keine relevanten Regionen waren. Doch wäre das entschieden zu viel aus unserem Nichtwissen abgeleitet.
Etwas später in der Geschichte der Christenheit gab es Metropoliten, also Bischöfe in Weltstädten der damaligen Zeit, die hauptsächlich um das Mittelmeer herum angesiedelt waren. Als dann 325 Konstantin das erste »ökumenische« Konzil einberief, war der Anspruch die Fragen des Glaubens für den Bereich des Kaisers zu regeln. Anders gesagt: Wozu hätte man Leute anderswoher einladen sollen? Das hätte nichts an Nutzwert gebracht, aber einige Kosten und Mühen (allein für die Reise und die Unterbringung) bedeutet.
Anders gesagt: Wenn wir annehmen, dass unser Bild des frühen Christentums ein (repräsentatives) Abbild der Zeit liefere, dann haben wir uns weit geirrt. Das sollten wir nicht erwarten.
So aber, wie das frühe Christentum, das wir (zufällig) historisch im Blick haben, keineswegs repräsentieren ist, sondern eben nur ein Ausschnitt, so ist unser Verständnis von historischen Hauptlinien allenfalls für das Christentum bei uns relevant. – Für eine Geschichte des Christentums in Indien oder Persien ist es allenfalls eine Fußnote zur Geschichte.
Leider zeigt sich auch hier, dass wer schreibt bleibt: Die Kanonbildung, die Konzilsgeschichte, ja, die sind nicht wegzudenken. – Selbst dann, wenn es in manchen Kirchen viele Jahrhunderte lang gedauert hat, bis sie bestimmte biblische Bücher in ihre Kanones aufgenommen haben, so haben doch fast alle Kirchen sich diesbezüglich dem Westen angeschlossen. Klar, bei der Apokalypse hat es nicht überall geklappt. Aber sonst doch weitestgehend.
Geschichte wird gemacht, sie ist aber eben nicht die gesamte gelebte/erlebte Geschichte, sondern eine Konstruktion der späteren Geschichtsschreibung, die einerseits intentional Geschichte schreibt: Etwa hinsichtlich der Überlieferung von abweichenden Positionen, die sich im Wesentlichen aus der Ketzerpolemik in den rechtgläubigen Texten rekonstruieren lässt, weil die Originaldokumente nicht überliefert wurden. Wir sollten angesichts dessen, was wir wissen, auch bedenken, was für Lücken unser Wissen aufweist. Vermutlich ist – und hier wird es endlich mal wieder theologisch – die Geschichte der Christentümer eine Geschichte Gottes mit seinen Leuten. Stets müssen also Zeitgeschichte, Überlieferungsgeschichte (und Nicht-Wissen) und Heilsgeschichte zusammen gedacht werden. Das aber ist die Herausforderung, gerade dann, wenn die Fragezeichen und die Mehrdeutigkeiten zunehmen, sofern wir uns auf die Vielfalt der Geschichte Gottes mit seinen Leuten und der Welt einlassen.
Neueste Kommentare