Im Judentum zeugt die Länge und Vielfalt, mit der über ein Thema nachgedacht wird, von der intensiven Auseinandersetzung. Dabei ist auch widersprüchliche Erkenntnis oder Entscheidung unterschiedlicher Auslegungen nicht allein akzeptiert: Wir Christenmenschen hier im Westen haben gerne die Wahrheiten und die Richtigkeiten im Topf, – und alles andere ist dann eben falsch. Wer sich einmal eine Seite im Talmud bzw. den Talmudim ansieht, der oder die kann umgehend erkennen, dass Mischna, Gemara und weitere Auslegung quasi um den Kern der Seite herum angeordnet sind und jeweils glossierend weitere, gerade auch abweichende, Auslegungen (be-)nennen.
Die Denkungsart ist verschieden. Im Christentum des Westens ist das »tertium non datur« kennzeichnend, im Judentum die »multiplicity of approaches« – also dass eine Antwort nur relativ zur Frage gültig ist, nicht aber allgemeingültig. Und: Es gibt neben dieser Ansicht und Position eben auch die zahlreichen anderen.
Für mich ist die Frage, ob wir – als Christenmenschen in der Postmoderne – nicht etwas lernen können von der Tradition, dass unterschiedliche Rabbinen unterschiedliche Positionen vertreten (etwa: Wann der Sabbat beginnt, was erlaubt und was verboten ist…)
Die Vielfalt und auch die Widersprüchlichkeiten kann man als bedrohlich empfinden – oder aber als bereichernd. Ich möchte letzteres.
Daraus folgen zusätzliche Fragen für mich und andere: Was möchte ich für mich leben? Wonach richte ich mich? Warum mute ich das anderen (etwa in der Familie) zu? Was, wenn die es gerne mit der Nachfolge anders oder gar nicht möchten?
Niemand hat gesagt, dass Christ-Sein einfach ist. – Wenn jemand in einer jüdischen Familie lebt, die orthodox ist, er selbst zählt sich aber dem Reformjudentum zu, dann ist das auch anstrengend. Konflikte und die Notwendigkeit zu rücksichtsvollem Miteinander sind unvermeidlich.
Allein: Drunter ist Nachfolge m.E. nicht zu haben, wenn wir anerkennen, dass es die Vielfalt der (begründeten) Wege zu Gott gibt.
Für mich denke ich etwa darüber nach, wie wir als (Mehrheits-Christen) mit dem Sabbat umgehen. Hauptsache es gibt einen Ruhetag, ob das nun der Sabbat oder der Sonntag ist… Neben den Juden (auch und gerade den messianischen) sind es die Siebenten Tags Adventisten, die hier eine Ausnahme aus dem Mehrheits-Christentum leben. Das Bemühen erkenne ich an. Denke aber: Es wäre besser, den Sabbat ernst zu nehmen, aber anders. Weniger gesetzlich (als im Judentum – vermutlich ja erst ab den Deuteronomisten bzw. dem chronistischen Geschichtswerk) und auch anders als im Adventismus.
Das Sabbat-Gebot aus den Zehn Geboten sollte man m.E. nicht einfach christlich adoptieren. Andererseits führt jede Gesetzlichkeit eher von Gott weg als zu ihm. Wie das gelebt werden kann, redlich und verantwortlich, das weiß ich derzeit nicht.
Klar ist, dass es relativ zu den Texten dessen, was wir als »altes Testament« betrachten weder den Weg gibt, die spätere jüdische Auslegung einfach zu übernehmen, noch die Texte zu beschlagnahmen im Sinne eines: »Nur wir haben das richtig verstanden…«
In jedem einzelnen Fall muss ein Konsens hergestellt werden – eine informierte Entscheidung getroffen werden. Allein: Das kostet Zeit und Kraft, die wir uns nicht nehmen (wollen/können).
Da als historisch und theologiegeschichtlich informierte Menschen heranzugehen, die obendrein versuchen, trotz und in der Geschichte das Wirken Gottes zu erkennen, das ist die Herausforderung. – Und dementsprechend zu leben, das ist für mich auch ein Aushalten der Intertextualität, also der Tatsache, dass zu den Themen vieles gedacht und geschrieben ist, das miteinander teils übereinstimmend, teils widersprechend, danach fragt, was den Menschen und Gott dienen mag.
Wenn wir das versuchen, so ist es ein informierter Ansatz, eben nicht in historischer Aufführungspraxis (»Nachfolge wie bei Luther« – das wäre albern in der Postmoderne). Aber: Zu wissen, was vor uns war und gedacht wurde, das kann mir helfen, den Reichtum und die Vielfalt menschlicher Fragen nach Gott für mein eigenes Fragen nutzbar zu machen – statt mit einigen Glaubenswahrheiten im Topf zu meinen, Gott ergriffen zu haben.
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