»Ecclesia semper reformanda.« – Die Kirche/Gemeinde sei stets zu reformieren. So heißt es besonders um den Reformationstag herum. Darin sind sich alle einig, allein: Welche Reformen gut und wünschenswert sind, welche abzulehnen sind, darin besteht Streit.
»Ich will so bleiben wie ich bin«, so sagt es die »Du darfst«-Werbung. Kirche darf nie so bleiben, wie sie vordem war, denn die Zeiten ändern sich, darin ändern sich die Menschen und auch die Erfordernisse Gottes.
Die größtmögliche Reform wäre nicht allein eine innere oder äußere Veränderung einer Kirche, sondern der gedankliche Abschied vom Modell der Kirche als einer Körperschaft oder einem Verein. Wenn wir heute Bonhoeffers »religionsloses Christentum« denken, so fällt sicher die Metapher vom Netzwerk.
Menschen sind in die Nachfolge gerufen, und insofern sind sie mit anderen, die sich in der gleichen Lage vorfinden, verbunden. Das ist aber auch ganz ohne Kirche oder über Kirchengrenzen hinweg denkbar.
Mit dem Wegfall der territorialen Kirchen, die durch die Konfession des Landesherren festgelegt wurden, sind die Landeskirchen ein Modell unter vielen. Immer mehr neue Kirchen geben sich gar keinen Rahmen: Sie bestehen teils in vorhandenen Körperschaften, teils werden Vereine (e.V.) gegründet, aber es gibt daneben auch Zell- und Hausgemeinden, sie sich alle bloße ad-hoc Verbindungen zusammenfinden.
Für viele ist konkrete Gemeinschaft mit anderen Christenmenschen wichtig, aber eben nicht unbedingt in einer Kirche oder Gemeinde, sondern in einem Hauskreis, einer ein- oder mehrmaligen Projektgruppe. Sei es, dass sich eine Zweierschaft verabredet, einen Bibellesenplan durchzuarbeiten, dass sich ein Hauskreis (eben oft über die Grenzen von Kirchen und Konfessionen hinweg) zusammenfindet.
Auch neue Netzwerke, etwa bloß via Internet, gibt es mehr und mehr. – Ich möchte nicht das eine (neue) Modell gegen das alte (der Gemeinden, die zu einer Kirche gehören) stellen. Vielmehr ist es so, dass alles das und vieles mehr gleichzeitig stattfindet. Und da finde ich es legitim zu fragen: »Was bedeutet der Satz, dass Kirche stets zu reformieren sei in einer solchen Situation?« – Hat er überhaupt eine Bedeutung?
Ausgehend von Klaus Winklers »persönlichkeitsspezifischen Credo« sind Christenmenschen wie (unterschiedlich reaktive) Atome; sie binden sich mehr oder weniger an andere, bilden Reaktionsketten, die mehr oder weniger stabile Bindungen eingehen. In Anwesenheit hoch-reaktiver anderer Verbindungen (und das ist zumindest in der Großstadt eher die Regel denn die Ausnahme), kommt es immer wieder zu Reaktionen, die die Landschaft der Kirchen und der Gemeinden umgestalten. Gleich, ob der Marburger Kreis neu eine Jugendarbeit aufmacht, die Navigatoren eine Hochschulgruppe neu formieren, ein Teil einer Baptistengemeinde zu charismatisch ist für die anderen und sich also abspaltet und selbständig macht: Stets sind diese Veränderungen religionssoziologisch zu beschreiben. – Was aber geschieht hier geistlich?
Luther war wichtig, dass Gott ein Gott der Ordnung ist, nicht des Durcheinanders und eben auch nicht der Schwärmerei. So weit, so gut. Unsere Kommunikationswege haben sich verändert. Luther schrieb lange Briefe an Fürsten und andere. Die waren je einige Zeit lang unterwegs. So ließ sich nachdenken, entscheiden, raten per Brief. Heute kommunizieren wir eher per E‑Mail und Messenger, loben einander mit Likes auf so genannten »sozialen Medien«. Mir scheint es, dass die Erwartung daran, was wie schnell entschieden wird, deutlich zugenommen hat.
Diese veränderten Kommunikationswege aber hindert uns vor allem an der Stille, am Innehalten und Hören auf Gott. Entweder also müssen wir unser Leben entschleunigen. Zeiten der Ruhe, des Hörens und Innehaltens fest einplanen. Oder wir müssen in großer Flexibilität eben eine Predigt dann Hören und Sehen, wenn sie passt, wenn wir meinen, einer solchen zu bedürfen. Das kann aber keine Gemeinde leisten. Es geht eher per YouTube oder als Abruf einer Predigt aus einem mp3-Archiv.
Beide Modelle sind denkbar. Wenn wir aber keine Formen finden, wie wir trotz der anderen Rahmenbedingungen unsere Nachfolge leben können, dann leben wir eben gerade keine Nachfolge, sondern unser eigenes Leben – ohne Gott.
Mir erscheint es so, dass die Frage nach der Kirche oder der Gemeinde sich weitgehend erledigt hat. Einige Gemeinden sind schlicht irrelevant. Andere praktizieren in »historischer Aufführungspraxis«. Das kann man machen, allein: Es müssen auch diese sich in Zeiten hoher Volatilität fragen lassen, ob sie Menschen erreichen.
Gott ruft sich seine Leute. Aber: Wo gehen die hin, wenn sie Gemeinschaft mit anderen wünschen? Das ist die Frage — für mich.
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